Das dunkle Netz der Lügen
daneben. Dann öffnete Anna aber den Mund und schluckte brav. Einige wenige Löffel voll konnte Lina füttern, dann spürte sie, wie Anna wiederin die Bewusstlosigkeit glitt. Sie hoffte nur, dass die junge Frau nicht erbrach, und hielt weiterhin ihre Hand.
Zitas erster Arbeitstag verlief sehr erfreulich. Wie zuvor am Abendbrottisch wurde sie von den anderen Näherinnen freundlich aufgenommen, nachdem sie klargemacht hatte, dass sie ihren Platz wieder räumen würde, sobald Anna zurückkehrte. Susanna zeigte ihr die Nähmaschine, Grete wies sie in die Arbeiten des heutigen Tages ein. Vorsichtshalber ließ man sie zunächst nur die oberen Stufen der Unterröcke mit der Maschine nähen, aber das Ergebnis war so gut, dass sie sicher bald jedes Stück fertigen konnte.
Mittags gab es eine schmackhafte Suppe mit Kartoffeln, und nach der kurzen Pause gingen alle wieder an die Arbeit. Aufmerksam hörte Zita dem Schwatzen der Mädchen zu. Aber in der Nähstube redete man kaum über die feine Kundschaft. Susanna regte sich über ihre jüngeren Schwestern auf, die bisher nichts zum Lebensunterhalt der Familie beitrugen, Grete klagte ihr Leid über ihren kranken Schwiegervater, dem sie nichts recht machen konnte, und Maria erzählte von früher, als sie noch nicht für ihr Geld arbeiten musste. Brauchbares für Weingart und die Bande des Greifers würde sie von den Frauen nicht erfahren. Vorsichtig fragte sie nach den Kundinnen.
«Manchmal hilft eine von uns aus beim Ankleiden, aber meist ist es Finchen, die den Damen zur Hand geht», erklärte Maria. «Sie hat eine Vertrauensstellung hier im Haus, obwohl sie gerade einmal zwanzig ist.»
«Zwanzig?», fragte Zita. «Und schon vier Kinder?»
«Ja.» Man sah Maria an, dass sie das durchaus missbilligte. «Und der kleine Oskar, ihr Ältester, wurde geboren, bevor sie den Simon heiratete. Aber der Commissar und die Chefin hatten den Kleinen derart ins Herz geschlossen, dass sie darüberhinwegsahen, die beiden heiraten ließen und gemeinsam einstellten.»
«Wenn sie das bei Simon nicht schon längst bereut haben», sagte Susanna bissig, und schon hechelte man Simon durch, der dem anderen Hausknecht Otto oft alle Arbeit überließ und sich verdrückte.
«Ich habe gehört, dass er sein Geld sogar manchmal zur dicken Martha trägt», setzte Grete noch hinzu.
Vorsichtig lenkte Zita das Gespräch wieder auf Finchen und ihre Arbeit im Salon.
«Finchen erzählt schon mal, worüber die Damen im Ankleidezimmer und im Salon so sprechen», sagte Grete. «Aber sie darf sich dabei nicht erwischen lassen, die Chefin ist so diskret wie ein Pfarrer.»
«Was erzählt sie denn so?», wollte Zita von ihr wissen.
«Na, zum Beispiel, damals, als die jüngere Tochter des Barons von Sannberg diesen französischen Grafen geheiratet hatte und er sie in Paris sitzenließ. Der Baron muss diesem Schlawiner mächtig zugesetzt haben, denn nach der Geschichte war der Mann fast bankrott, und seine Tochter lebt nun als reiche geschiedene Frau in Berlin. Aber sie war ja immer ganz anders als ihre Schwester Beatrice, unsere junge Frau Messmer.»
Auch mit dieser Art Klatsch würde Uli wenig anfangen können, fürchtete Zita. Sie fragte sich, wie lange er ihr Zeit geben würde, bis sie brauchbare Ergebnisse liefern musste.
Am frühen Nachmittag war eine Anprobe, und der Überfall auf Anna hatte den gesamten Zeitplan durcheinandergebracht. Ohne Anna und Lina, die immer den Überblick über das zu nähende Stück hatten, fühlten sich die restlichen Näherinnen etwas unwohl. Zita heftete gerade mit Nadel und Faden die Ärmel des hellen Nachmittagskleides zusammen, Susanna die Rockteile. Grete war mit dem Kragen des Oberteils beschäftigt gewesen und hielt es jetzt vor sich.
«Da stimmt etwas nicht», sagte Zita. Sie stand auf und kam zu Grete herüber.
«Am Kragen?», fragte die.
«Nein.» Zita zog das Oberteil auseinander. Es war schlicht, ohne jede Verzierung, nur eine Knopfleiste sollte es auflockern. «Ihr habt Vorder- und Rückseite verwechselt!»
Grete, Susanna und Maria sahen sich das Teil genau an. «Sie hat recht», sagte Maria, und Susanna nickte.
Grete wurde hochrot. «Das war wohl die ganze Aufregung gestern. Und es soll doch heute Nachmittag fertig sein …»
Zita sah hinüber zu der schlichten kleinen Uhr, die auf dem Fensterbrett stand. «Trenn es auf, beeile dich. Mit der Maschine schaffen wir das noch.»
«Aber wir nähen nur die langen Rocknähte auf den Maschinen!»,
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