Das Dunkle Netz Der Rache
glitt zu ihren Gelenken und fühlte die unverwechselbare Textur von Paketband. »Ich muss mein Messer holen«, sagte er.
»Natürlich. Danke. Danke.«
Er erhob sich und tastete sich zurück zu seinem Rucksack und der Plastiktüte. Den ganzen Weg über dachte er scharf nach.
Zu seiner Campingausrüstung gehörte ein Taschenmesser, aber er schnappte sich das Messer, das Lisa zusammen mit den Lebensmitteln eingepackt hatte. Der Wellenschliff würde wesentlich schneller durch das Paketband gleiten. Falls er es benutzte. Er kehrte zu ihr zurück, blieb aber diesmal einen guten Meter vor ihr stehen, sobald er ihren Umriss in der Dunkelheit erkennen konnte.
»Ich habe das Messer«, sagte er.
»Gott sei Dank.« Er hörte ein leises pling, als sie sich vorbeugte, als würde eine Eisenschelle gegen den Zementboden klirren. »Bitte, fang mit den Händen an. Meine Arme sind ganz taub.«
»Ja, klar.« Er kauerte sich hin. »Aber erst will ich wissen, was du in Wirklichkeit hier machst.«
Sie hörte auf, sich zu bewegen. »Das habe ich dir erzählt.«
Er wartete, ohne etwas zu sagen. Das hatte sein Dad immer getan, wenn er glaubte, dass Randy log. Er hatte nicht geschimpft; hatte nicht erklärt, warum er glaubte, dass Randy nicht die Wahrheit sagte. Er hatte dagesessen. Stumm. Bis Randy einbrach.
»Mach mich los! Ich hab es dir gesagt! Ich habe hier jemanden getroffen, und er hat mich gefesselt. Ich dachte, er macht nur Spaß.«
Schweigend hockte er vor ihr. Er hielt das Messer und drehte es, bis die Klinge einen schwachen Strahl aus dem weit entfernten Fenster einfing.
»Bitte!«
Ein Teil von ihm wollte kichern. Wer hätte gedacht, dass er mal die Schweigemethode seines Vaters benutzte, statt in die Luft zu gehen? Er fühlte sich seltsam erwachsen, und im gleichen Augenblick war ihm bewusst, dass er sich erwachsen fühlte. Wie damals, als er und Lisa nach ihrer Heirat zum ersten Mal im Haus seiner Eltern übernachtet hatten.
»Also gut«, knurrte sie, und er kehrte mit einem Ruck in die Gegenwart zurück. »In Ordnung. Schneid mich los, und ich erzähl dir alles.«
»Erzähl’s mir, und dann schneide ich dich los.«
Sie schnaubte. »Okay.« Sie holte tief Luft. »Ich habe gesehen, wie ein Mann meinen Bruder umgebracht hat. Er sperrte mich in seinen Wagen und brachte mich hierher. Ich glaube, er versucht zu entscheiden, ob er mich töten soll oder nicht.«
Sein Kopf war einen Moment vollkommen leer, während er versuchte, ihre Aussage in die wirkliche Welt, in der er lebte, einzupassen. Sein erster Gedanke war: Schon wieder mein übliches Pech. Er war in eine verrückte Folge der Sopranos gestolpert. Wenn er diese Frau befreite, würde sich ein Auftragskiller an seine Fersen heften.
»Was … was hat dein Bruder getan? Warum hat der Typ ihn umgebracht?«
»Getan? Er hat gar nichts getan.« Ihre Stimme brach. »Er war ein Einsiedler, der in den Bergen lebte und außer mir und meiner Schwester nie jemanden traf, wenn er es verhindern konnte. Ich weiß nicht, warum er umgebracht wurde. Ich weiß überhaupt nicht, was los ist.«
Einsiedler. Berge. Lisa, die sagte: Oh, Schatz, es ist so schrecklich. Mr. van der Hoeven ist ermordet worden.
»Du heißt nicht Melanie. Du bist van der Hoevens Schwester Millie«, sagte er.
Sie schwieg einen Moment. »Ja«, sagte sie schließlich.
»Man sucht nach dir.«
»Wenn du mich losschneidest, können sie aufhören.«
Er trat hinter sie und schob die Messerspitze unter den ausgefransten Rand des Paketbands. Er sägte. Er hatte die vermisste Frau gefunden. Vielleicht war sie so dankbar, dass sie ihm ein Alibi verschaffte. Das Paketband um ihr Handgelenk gab nach, und mit einem schmerzerfüllten Stöhnen zog sie die Arme nach vorn.
»Gott.« Sie krümmte sich und wiegte sich vor und zurück.
»Hm.« Er setzte sich und rutschte ein Stückchen von ihr fort, außer Reichweite, für den Fall, dass ihre Arme nicht ganz so nutzlos waren, wie es schien. »Vielleicht könntest du mir ja einen Gefallen tun, nachdem ich dir einen getan habe.«
Sie gab ein Geräusch von sich, das ihn möglicherweise ermutigen sollte, fortzufahren.
»Ich stecke in, äh, Schwierigkeiten. Darum bin ich hier. Vielleicht könntest du sagen, dass du mit mir zusammen gewesen bist? Gegen Mittag, für ein paar Stunden?«
»Könnte ich«, sagte sie mit vor Schmerzen dünner Stimme. »Aber glaubst du nicht, dass es ein bisschen seltsam wirken würde, dass du mich den ganzen Tag gefesselt hast? Wie auch immer
Weitere Kostenlose Bücher