Das Dunkle Netz Der Rache
Blutergüsse erschreckten sie. Er sah aus wie ein Boxer. »Wer sind Sie?«, fragte er.
Sein Alter, die Kleidung, die Autorität in seiner Stimme – sie hätte fast aus reiner Gewohnheit die Wahrheit gesagt. Sie putzte seit einem Jahr für ihn, und er erkannte sie nicht. Dann fiel ihr der Schweiß auf seiner Stirn auf, der feuchte Film auf seiner Oberlippe.
Im Küchenflur war es kühl.
»Ich habe Millie van der Hoeven.«
Er warf einen raschen Blick über die Schulter, dann sah er sie wieder an. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte er.
»Auch gut. Ich werde meinen Freund anrufen, damit er sie zur Polizei bringt. Sie will schon den ganzen Tag unbedingt mit denen reden.« Sie tat so, als wollte sie an ihm vorbeigehen.
Er streckte den Arm aus und versperrte ihr den Weg. »Öffnen Sie Ihre Jacke«, forderte er sie auf.
Sie gehorchte.
»Ziehen Sie den Pullover hoch!«
»Sie können mich mal. Wenn Sie Titten sehen wollen, müssen Sie woanders hin, Sie Perverser.«
»Ich will mich vergewissern, dass Sie nicht verkabelt sind, bevor ich mit Ihnen rede, dumme Gans.«
»Oh.« Sie zog Pullover und Jacke bis knapp unter ihre Brüste hoch und drehte sich langsam, damit er sehen konnte, dass auch an ihrem Rücken nichts befestigt war. Es war das Merkwürdigste, was sie an diesem Tag voller Merkwürdigkeiten getan hatte. Es schien irgendwie unwirklich – eher wie in einem Fernsehfilm. Die Unwirklichkeit ermutigte sie. »Hier ist mein Vorschlag«, sagte sie und dämpfte ihre Stimme. »Sie gestehen, Becky Castle zusammengeschlagen zu haben, und wir sorgen dafür, dass Millie van der Hoeven keine Gelegenheit erhält, Sie des Mordes an ihrem Bruder anzuklagen.«
Reids Augen wurden zu Schlitzen. Er machte einen Schritt auf sie zu, und einen Moment lang hatte sie Angst. Dann wurde ihr durch ein Poltern aus der Küche bewusst, dass sie sich an einem relativ öffentlichen Ort befanden. Wenn er etwas versuchte, konnte sie das ganze Haus zusammenschreien.
»Sie haben das Kleid und das Make-up in meinem Büro plaziert, oder? Sie kleine Nutte.« Er zischte die letzte Beleidigung so leise, dass sie nicht sicher war, ob er es überhaupt gesagt hatte.
Sie zwang sich, stark und selbstbewusst zu klingen. »Ich bin sicher, dass Sie lieber wegen Körperverletzung als wegen Mordes verhaftet werden wollen.«
»Es war ein Unfall«, knurrte er.
»Also sollen wir Millie zur Polizei bringen?«
»Nein!« Er legte einen Arm auf die Brust und presste den anderen dagegen. Er bedeckte Mund und Kinn mit einer Hand. Schließlich sagte er: »Woher weiß ich, dass Sie sie nicht zur Polizei gehen lassen, nachdem ich die Körperverletzung gestanden habe?«
»Es ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Wie bei einer Wippe. Wenn Sie leugnen, Becky Castle geschlagen zu haben, sitzen wir in der Klemme. Falls wir Millie bei der Polizei aussagen lassen, sitzen Sie in der Klemme.«
»Wegen Körperverletzung verhaftet zu werden, das ist keine Klemme, Sie Idiotin.«
»Sie sind reich. Sie können sich einen guten Anwalt leisten. Sagen Sie ihm, es wäre ein Streit unter Liebenden gewesen, dann holt er Sie vermutlich auf Bewährung – und ein paar Sozialstunden – raus.«
Er musterte sie. »Ihr Freund ist der Mensch, der die Castle in Wirklichkeit niedergeschlagen hat, stimmt’s?« Er starrte auf ihre Hand. Sie folgte seinem Blick und sah ihren Ehering. »Er ist Ihr Ehemann«, sagte Reid.
Sie schloss die Hand und presste sie ans Bein. »Abgemacht?«
»Ich muss das Essen hinter mich bringen«, sagte er und wies mit dem Kopf zur Küche. »Ich habe ein wichtiges Geschäft laufen. Und ich brauche Zeit, um meinen Anwalt anzurufen, ehe ich mich stelle.«
»Sie haben Zeit bis Mitternacht.«
»Wie Aschenputtel«, sagte er. »In Ordnung.«
Sie blieb einen Moment stehen, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte. Er hatte einfach … nachgegeben. Das hatte sie nicht erwartet. Endlich riss sie sich zusammen und ging weg. Er sagte nichts, und sie schwieg ebenfalls.
Erst als sie um die Ecke gebogen war und vor der Treppe zur Lobby stand, erlaubte sie sich ein Lächeln, ein breites, triumphierendes Lächeln. Sie hatte es geschafft. Sie würde ihren Ehemann retten.
20:30 Uhr
Shaun wartete, bis die junge Frau außer Sicht war, ehe er sich erneut durch die Schwingtür in die Küche schob. Er marschierte direkt durch die wilde Choreographie der Köche und Küchenhelfer und Kellner; sein Ausdruck war so bedrohlich, dass ihm selbst die hartgesottensten
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