Das dunkle Volk: Eishauch: Roman (Knaur TB) (German Edition)
müssen, sondern ihm die Führung zu überlassen.
Wir flogen stumm, bis wir den See erreicht hatten. Ein Schimmer lag vibrierend über der Landschaft, und der Uhu flog direkt hinein. Der Schimmer war wie der Sommer, wie warme Blätter und dämmrige Träume, und eine stete Brise, die den Duft nach Rosen und Heckenkirschen mit sich brachte, beruhigte meine Sinne. Ich flog hinter dem Uhu durch das Portal und blinzelte unwillkürlich, als ich unter mir saftiges grünes Gras sah und das Plätschern der kleinen Wellen am Ufer wahrnahm. Nirgendwo war Schnee zu sehen.
Der Uhu ließ sich in einer Spirale abwärtssinken und landete auf einem niedrigen Ast bei Lainules Thron, und ich tat es ihm nach. Ich war noch nie als Eule im Sommerreich gewesen, und nun war jeder Atemzug, jeder Ton, jede Bewegung intensiver.
Einen Augenblick darauf erschien die Königin von Schilf und Aue in einem hauchzarten Kleid. Ohne den Blick von uns zu nehmen, näherte sie sich dem Thron. Schließlich seufzte sie und neigte leicht den Kopf.
»Cicely. Nimm Gestalt an.«
Ich flatterte zu Boden, versuchte, die Furcht zu verdrängen und mich auf mich selbst zu besinnen, und wurde wieder zum Menschen, der nackt und frierend im Gras stand. Ich empfand keine Scham oder auch nur Verlegenheit; ich war viel zu erschöpft und niedergeschmettert, um mir Sorgen darum zu machen, was ich anhatte – oder nicht anhatte.
Lainule betrachtete mich einen Moment lang, dann nahm sie ihren Umhang ab und legte ihn mir behutsam um die Schultern. Der dünne Stoff war überraschend warm, und mein Atem verlangsamte sich, als die Angst fast augenblicklich von mir abzufallen begann. Sie nickte dem Uhu zu, und auch er flog zu Boden. Einen Moment später erblickte ich einen umwerfend schönen Mann mit jetschwarzem Haar. Er trug Kleider, also musste er ein echter Cambyra sein, doch seine Kleidung schimmerte wie Lainules Gewand, und mir wurde klar, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Feenmann handeln konnte.
Lainule presste die Lippen zusammen und wirkte plötzlich furchtbar traurig, doch dann warf sie ihr Haar zurück und straffte die Schultern. »Cicely, begrüße meinen Gemahl, den König von Schilf und Aue. Er wacht seit deiner Rückkehr über dich. Beuge das Knie vor deinem Vater, Wrath, Herr des Sommers.«
Ein scharfer Schrei entfuhr mir, als ihre Worte sich in mir manifestierten. Mein Vater Wrath. Ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt, dass der Uhu mein Vater sein könnte – ich war mir nicht sicher gewesen, hatte aber die Möglichkeit nicht abwegig gefunden. Aber … Wrath war außerdem Herr des Sommers? Lainules Gemahl?
»Willst du nicht vielleicht etwas sagen?« Sie zog eine Braue hoch, und ich wusste nicht, ob sie indigniert war oder nur neugierig.
»Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll«, flüsterte ich und blickte zu Wrath auf. Seine Augen waren gütig, aber streng, uralt und weise wie Lainules und frei von jeglicher Moral. »Du bist also mein Vater. Ich wollte dich so unbedingt kennenlernen …«
»Ich hätte es für besser gehalten, dieses Treffen noch hinauszuschieben, aber mein Fürst hätte dich niemals hergebracht, wenn die Lage nicht ernst wäre.«
Und damit strömte Anadeys Verrat wieder auf mich ein, und ich sank ins Gras und ließ meinen Tränen freien Lauf. »Im Moment ist alles so finster. Ich kann den Weg nicht mehr erkennen. Anadey hat etwas mit mir angestellt. Zwar hat sie den Zauber nicht zu Ende bringen können, aber es ist etwas mit mir geschehen, das weiß ich.«
»Erzähl uns genau, was sie getan hat. Dass ich dein Vater bin, können wir noch ein andermal besprechen – dazu ist noch alle Zeit der Welt. Aber dies hier … du hast gesagt, dass Anadey dich verraten hat?«
Ich nickte. Mein Gesicht glühte. »Und ich habe ihr vertraut.« Und bevor ich mich versah, erzählte ich alles haarklein: von meinem Plan, Grieve zu befreien, meinem dringenden Bedürfnis, bei ihm zu sein, die Sorge, meine Freunde zu gefährden, weil das Gift seiner Zähne mich hörig gemacht haben mochte, von Leos Vorschlag, Anadey um Hilfe zu bitten, und die Entscheidung, die ich getroffen hatte, um den Effekt zu neutralisieren. »Ich wollte einfach nur wieder klar denken können. Aber jetzt …«
Ich legte die Hände auf den Wolf und suchte nach ihm, suchte nach der Verbindung, aber da war nichts. Die Tätowierung war nur noch Tinte auf meinem Bauch.
»Beschreib uns den Zauber.« Lainule schalt nicht, tröstete mich aber auch nicht.
Ich
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