Das Echo aller Furcht
Demonstranten auf das Ministerium für Staatssicherheit und die Vernichtung von Millionen von Akten hatten sie ebenfalls überrascht. Es waren jedoch nicht alle Dokumente zerstört worden, denn unter den Demonstranten waren Agenten des Bundesnachrichtendienstes gewesen, die genau gewußt hatten, in welchen Räumen sie wüten mußten. Innerhalb weniger Tage begannen RAF-Mitglieder abzutauchen. Anfangs war es nicht einfach gewesen, sich ein Bild von der Lage zu verschaffen. Das verlotterte Telefonsystem der DDR erschwerte die Kommunikation, und die Ex-Terroristen waren aus naheliegenden Sicherheitsgründen in verschiedenen Städten untergebracht worden. Als ein anderes Ehepaar nicht wie abgemacht zum Abendessen erschien, hatten Günther und Petra Lunte gerochen – zu spät allerdings. Während der Ehemann die Flucht vorbereitete, trat ein fünfköpfiges Team von GSG-9 die dünne Tür der Bockschen Wohnung in Ostberlin ein. Die Männer fanden Petra beim Stillen eines der Zwillinge vor. Trotz der rührenden Szene konnten sie angesichts der Tatsache, daß Petra Bock drei Deutsche ermordet hatte, einen davon sehr brutal, kein Mitleid aufbringen. Petra saß nun in Stammheim eine lebenslange Freiheitsstrafe ab – was im Klartext hieß, daß sie das Gefängnis erst im Sarg verließ -, und die beiden kleinen Töchter wurden von einem Münchner Polizeibeamten und seiner Frau, die keine Kinder bekommen konnte, adoptiert.
Zu seiner Überraschung mußte Bock feststellen, wie sehr ihn der Verlust der Familie schmerzte. Immerhin war er ein Revolutionär, der sich seiner Sache verschworen und für sie getötet hatte. Warum war er dann über die Inhaftierung seiner Frau und den Verlust seiner Kinder so entsetzlich aufgebracht? Doch er konnte das Lächeln der beiden Kleinen, deren Augen und Nase wie die der Mutter waren, nicht vergessen. Wenigstens wußte er, daß ihnen kein Haß auf ihn eingetrichtert werden würde, denn sie wußten nichts von Günthers und Petras früherer Existenz. Er hatte sich einer Sache verschrieben, die größer und wichtiger war als seine physische Existenz, und zusammen mit seinen Genossen bewußt und entschieden auf eine bessere Welt für die Massen hingearbeitet. In diesem Sinne wollten sie ihre Kinder erziehen, damit die nächste Generation der Bocks die Früchte der heroischen Anstrengungen ihrer Eltern ernten konnte. Und das sollte ihm nun versagt bleiben. Günther Bock empfand kalten Haß.
Bedrückender noch war seine Konfusion. Das Unvorstellbare war geschehen. Das Volk des Ersten Arbeiter- und Bauernstaates hatte sich revolutionär gegen seinen fast perfekten sozialistischen Staat erhoben und für ein von den Kräften des Imperialismus errichtetes monströses Ausbeutersystem entschieden, verführt von den Verlockungen des Konsums allein? Bock konnte trotz seiner Intelligenz keinen rationalen Zusammenhang erkennen, konnte sich nicht zu der Erkenntnis durchringen, daß die Menschen seines Landes den »wissenschaftlichen Sozialismus« geprüft und als nicht praktikabel verworfen hatten.
Er hatte zu lange für den Marxismus gelebt, um ihn nun leugnen zu können, und ohne den theoretischen Überbau und das revolutionäre Ethos war er nichts weiter als ein gewöhnlicher Krimineller und gemeiner Mörder. Und nun hatten seine Wohltäter diese Werte summarisch abgelehnt. Einfach unmöglich. Unmöglich.
Und unfair, daß so viel Unmögliches auf einmal passiert war. Er faltete die Zeitung auf, die er zwanzig Minuten zuvor sieben Straßen von seiner derzeitigen Unterkunft entfernt gekauft hatte. Das Foto auf der Titelseite stach ihm sofort ins Auge.
»Schwachsinn«, murmelte Günther Bock, als er die Bildunterschrift las: CIA BEWIRTET KGB!
»Als neue bemerkenswerte Wendung in erstaunlichen Zeiten empfing die CIA den Stellvertretenden Vorsitzenden des KGB zu einer Konferenz, bei der ›Themen von gemeinsamem Interesse‹ für die beiden weltgrößten Geheimdienst-Imperien erörtert wurden ...«, hieß es in dem Artikel. »Aus zuverlässigen Quellen verlautete, daß bei diesem neuesten Kapitel der Zusammenarbeit zwischen Ost und West unter anderem ein Austausch von Informationen über die zunehmend enger werdenden Verbindungen zwischen dem internationalen Terrorismus und Rauschgifthandel vereinbart wurde. CIA und KGB werden zusammenarbeiten, um...«
Bock ließ die Zeitung sinken und starrte aus dem Fenster. Wie alle Terroristen wußte er, wie es ist, wenn man wie gehetztes Wild gejagt wird. Das war der
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