Das Echo der Flüsterer
lauschte er Lischkas weiterem Bericht.
Chruschtschow hatte in jenem Monat April, noch während er in seinem Feriendomizil auf der Krim weilte, einen folgenschweren Entschluss gefasst. Er wollte die Bedrohung durch die Raketen des Adlers auf keinen Fall dulden. Da er zu Recht nicht daran glaubte, dass sich die stolzen USA um sowjetische Proteste scheren würden, beschloss er die Operation Anadyr ins Leben zu rufen. Vielleicht wäre ihm an einem anderen Ort auch eine andere Idee gekommen, aber hier, am Schwarzen Meer – also gewissermaßen direkt gegenüber den amerikanischen Raketenstellungen in der Türkei –, fand er nur eine Antwort auf die Provokation des arroganten Adlers. Als er seinen Stellvertretenden Ministerpräsidenten Anastas Mikojan davon unterrichtete, war der entsetzt. Aber Chruschtschow ließ sich nicht so schnell entmutigen. Er beauftragte eine Gruppe seiner engsten Berater, die Pläne zu prüfen. Und weil Chruschtschow ein sehr tatkräftiger Mann war, schickte er auch so bald wie möglich eine Gesandtschaft nach Kuba, um Castros Meinung zur Operation Anadyr zu hören.
Erst später erfuhr Chruschtschow, dass auch der Adler eine Geheimoperation plante.
Ximon nickte ernst. »Sie gaben ihrem Vorhaben den Namen Mongoose.«
Lischka erzählte von mehreren Hinweisen, welche die Geheimdienste des Moskitos und des Bären erhalten hatten. Offenbar plante der Adler einen neuerlichen Invasionsversuch auf Kuba. Man glaubte zu wissen, dass es – wie schon im Jahr zuvor – wieder einmal vom CIA unterstützte Exilkubaner seien, welche die Insel im Oktober 1962 überfallen wollten.
»Aber das wäre ja jetzt, in den nächsten Tagen!«, brach es aus Jonas hervor. Er erinnerte sich mit Schaudern, was Lischka vor dem Kristallrat erzählt hatte. »Die Russen haben doch – wie hieß das gleich? – taktische Atomraketen auf Kuba, von denen weder CIA noch US-Army etwas wissen. Wenn die Exilkubaner da so einfach reinspazieren, kann dann nicht…?«
»Bum!«, machte Sam Chalk und fügte grimmig hinzu: »Wie ich unsere Stabschefs kenne, wären sie an Stelle der Kubaner ganz versessen darauf, aufs rote Knöpfchen zu drücken.«
Lischka warf dem Piloten einen irritierten Seitenblick zu. Aber dann nickte er und sagte mit ernster Miene: »Das wäre der Anfang vom Ende.«
Allmählich begann Jonas zu begreifen, wie brenzlig die ganze Lage wirklich war. Maßlose Selbstüberschätzung, Stolz und pures Unwissen konnten praktisch jeden Augenblick dazu führen, dass auf der Erde ein Atomkrieg ausbrach.
Der weitere Bericht Lischkas ließ das explosive Szenario nur noch bedrohlicher erscheinen. Chruschtschow wollte offenbar unbedingt eine Situation schaffen, welche die Amerikaner an einer Invasion der »Insel der Freiheit« hindern und zu Verhandlungen zwingen würde. Aber er brauchte einen Trumpf. Deshalb ließ er die russischen Atomraketen nach Kuba schaffen.
Als Lischka nichts mehr hinzuzufügen hatte, meldete sich Ximon noch einmal zu Wort. Was er sagte, bestätigte Jonas’ schlimmste Befürchtungen.
Fast ein Jahr vor Chruschtschows folgenschwerer Ferienidee hatte Robert Kennedy eine kurze Mitteilung an seinen Bruder geschrieben. Er erinnerte sich noch sehr genau an diesen 19. April des Menschenjahres 1961, bemerkte Ximon, weil es der Tag nach dem amerikanischen Schweinebuchtfiasko gewesen sei. Bobby – wie Kennedys Bruder gemeinhin genannt wurde – mahnte in seinem Memorandum schnelle und energische Schritte an, da ansonsten in ein oder zwei Jahren mit der Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba zu rechnen sei. Er schlug dem Präsidenten mehrere Lösungswege vor. Zu den Optionen gehörten auch die Invasion Kubas und eine Seeblockade.
»Ich weiß noch, dass Chruschtschow am selben Tag einen Brief an den amerikanischen Präsidenten geschrieben hat«, flocht Lischka ein. »Er versicherte darin, die UdSSR suche ›keine Vorteile oder Privilegien in Kuba. Wir haben keine Basen auf Kuba und wir haben auch nicht die Absicht solche zu errichten‹. Aber schon damals ließ er es sich nicht nehmen, mit den Muskeln zu spielen. Nachdem er erst seine Unschuld beteuert hatte, schrieb er weiter, wenn die USA fürderhin kubanische Emigranten bewaffnen und unterstützen würden, wäre solch eine Politik von ›unzumutbaren Aktionen… eine schlüpfrige und gefährliche Straße, welche in einen neuen weltweiten Krieg führen könnte‹.«
»Dann war die Operation Anadyr also mehr als nur eine Schnapsidee«, murmelte Jonas.
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