Das Echo der Flüsterer
seit Jahrhunderten nicht mehr verlassen.«
»Oh!«, entfuhr es Jonas. »So alt ist er?«
»Sogar noch viel älter. Doch nun lass uns von dir sprechen. Minuq und ich brennen darauf, deine Geschichte zu hören. Wo kommst du her und wo gehst du hin? Lass bitte nichts aus. Wir haben eine ganze Nacht Zeit.«
SPIEGELVERKEHRT
Jonas hatte dann doch ein paar unwesentliche Details ausgelassen. So konnte er in der Nacht wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf finden.
Bis weit nach Mitternacht hatte er den Wölfen seine Geschichte erzählt. Zum wievielten Mal nun schon? Komischerweise konnte er es nicht recht sagen. Auch Talinka und Minuq berichteten über ihr Leben. Für einen fremden Beobachter wäre es sicher ein merkwürdiges Bild gewesen, wie der Junge da mit einem Schelpin und einem ganzen Rudel Wölfe um das Feuer saß und munter plauderte.
Die ganze Zeit über hatten nur Talinka und ihr Sohn gesprochen, aber Jonas fragte sich doch, wie viele von den anderen Graupelzen ihn noch verstehen konnten, zumal einige aus Talinkas Würfen stammten.
Je weiter die Nacht voranschritt, desto mehr Welpen wurden sichtbar. Ihre Köpfe tauchten zuerst zaghaft zwischen den Pfoten der Mütter auf, aber bald schon trauten sich ein paar ganz Mutige weiter vor. Am Ende lagen drei von ihnen auf Jonas’ untergeschlagenen Beinen und er hatte alle Hände voll zu tun sie gleichmäßig zu kraulen und zu streicheln. Die Welpen spürten sehr genau, dass sie hier einen Freund gefunden hatten, dem sie vertrauen konnten.
Entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten stellte Trojan in der zweiten Hälfte der Nacht seinen Bauch als Kopfkissen zur Verfügung. Dem Schelpin war die Gegenwart von so vielen Wölfen noch immer nicht geheuer und deshalb suchte es die Nähe des einzigen Wesens, das ihm das Gefühl der Geborgenheit vermittelte.
Jonas erwachte schon in der Dämmerung. Er lag eingekeilt zwischen einem Reittier und drei Jungwölfen. Der Himmel über der Felswand schimmerte in einem satten dunklen Blau.
»Du hast nicht lang geschlafen«, begrüßte ihn Minuq. Der Wolf saß gerade zwei Schritt entfernt auf seinen Hinterläufen und musterte Jonas aufmerksam.
»Muss wohl an meiner Bettwäsche gelegen haben. Sie hat sich ständig herumgewälzt oder nach mir getreten.« Jonas warf einen liebevollen Blick auf die aneinander gekuschelten Welpen.
»Sie halten dich für so etwas wie einen großen Bruder.«
»Mit Tieren Freundschaft zu schließen fiel mir immer schon leicht, ausgenommen…« Jonas zögerte.
»Du willst sagen, ausgenommen bei mir?«
Jonas blickte verlegen zu Boden.
»Du musst dich nicht schämen, weil du die Wahrheit sagst«, half Minuq seinem Gast aus der Bedrängnis. »Manchmal frage ich mich, ob nicht gerade der Verstand, den wir mit euch Menschen teilen, es ist, der uns ab und an zu Bestien werden lässt.«
»Manche Menschen sind schlimmer als jedes Raubtier. Vor allem dann, wenn jemand anders ist als sie.«
Minuq senkte den Kopf, als wollte er nicken. »Das erscheint mir wahr. Das Fremde verunsichert sie. Und ihre Unsicherheit wird dann zu Hass. Und Hass kann schnell in Angriffslust umschlagen.«
»Dass gerade du das sagst, ist schon erstaunlich, Minuq.«
»Es war nur der Versuch einer Entschuldigung, Jonas.«
»Schwamm drüber. Ich bin nicht nachtragend. Außerdem wollte ich schon immer mal einen Wolf als Freund haben.«
Minuq lachte leise. »Dann kannst du ja jetzt zufrieden sein.«
Vom Wald her kam Talinka herübergetrottet. Trojan zog sich vorsichtshalber an Jonas’ Seite zurück. Talinka schnupperte kurz an den schlafenden Welpen und begrüßte dann Jonas und ihren Sohn.
Nachdem sie eine Weile leise mit Minuq gesprochen hatte, meinte sie: »Heute haben wir noch einen langen Marsch vor uns.«
»Ist es sehr weit bis zu Keldins Burg?«, fragte Jonas.
Talinka musterte Trojan aus gelben Augen. »Mit deinem Schelpin werden wir anderthalb Tagesreisen brauchen.«
»Vorausgesetzt, wir beschränken uns auf ein Dutzend unserer stärksten und erfahrensten Gefährten. Die übrigen Männchen lassen wir bei den Welpen und den trächtigen Weibchen zurück«, fügte Minuq hinzu.
Talinka sah ihren Sohn liebevoll an. »Ist er nicht ein verantwortungsbewusster Leitwolf?«
»Einen besseren kann man sich kaum vorstellen«, pflichtete ihr Jonas bei. »Ist die Burg eigentlich noch bewohnt?«
»Die Feste auf Keldins Klippe? Nein. Schon seit Äonen nicht mehr. Nur Merleander kann sich noch an die Tage erinnern, als die
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