Das Echo der Flüsterer
letzten Kleinen in dem Gemäuer lebten. Sie sind längst alle fortgezogen in die Stadt der zwei Weisen.«
Jonas wurde hellhörig. »Du meinst die Stadt, die von den Nachkommen Keldins und seiner Getreuen bewohnt wird?«
»Ebendie, ja. Wir Wölfe halten uns fern von dieser Gegend, obwohl die Keldinianer im Grunde ein gutherziges Volk sind. Sie verhalten sich nur etwas merkwürdig, aber das mag daran liegen, dass sie eben keine Wölfe sind.«
»Und warum hast du sie die ›Stadt der zwei Weisen‹ genannt?«
»Vor einigen Jahren kamen zwei Wanderer ins Zwieland. Sie lebten anfangs zurückgezogen in den Bergen – übrigens ganz nahe bei Keldins Klippe. Nachdem die ersten Keldinianer mit ihnen Kontakt aufgenommen hatten, erhielten die Wanderer fast regelmäßig Besuch. Immer häufiger baten die Kleinen sie auch um Rat. Zuletzt fanden sie es einfach viel zu umständlich, immer die weite Reise bis zu den Klippen zurückzulegen. Deshalb redeten sie so lange auf die Wanderer ein, bis diese an den Rand der Stadt zogen, die eigentlich den Namen Kalvar trägt. Seit jener Zeit wohnen die beiden Weisen in einem Haus aus farbigen Steinen und dienen den Keldinianern als Ratgeber und Richter. Wenn man es genau nimmt, sind sie sogar die Fürsten des Zwielandes, aber weder die Wanderer noch das Kleine Volk machen sich besonders viel aus solchen Titeln.«
»Ob…« Die Fragen überschlugen sich plötzlich in Jonas’ Kopf, aber er wagte kaum sie auszusprechen. »Ob die Weisen mir einen Weg zurück zur Erde zeigen könnten? Ich muss nämlich unbedingt meine Eltern und Lydia Gustavson finden. Vielleicht wissen sie ja sogar, wo ich suchen muss. Und ob sie den Bonkas helfen können zwischen dem Adler und dem Bären Frieden zu stiften? Könnt ihr mir den Weg zur Stadt zeigen, wenn wir Keldins Spiegel gefunden haben?«
»Jetzt bist du fast so ungeduldig wie Minuq, als er noch ein Welpe war«, lachte Talinka. In einem seltsamen Ton fügte sie hinzu: »Es wird sich für dich auf jeden Fall lohnen, die Weisen zu besuchen. Wir helfen dir, so wahr ich Talinka die Wanderin bin.«
Die Worte der Wölfin waren wie frischer Regen auf Jonas’ ausgedörrter Seele. All die Rückschläge, die er seit der Durchquerung der Spiegelregion hatte einstecken müssen, waren für ihn nur sehr schwer zu ertragen gewesen. Doch nun schien sich das Blatt endlich zu wenden. Wenn die Wölfe auch nichts über seine Freunde wussten – Jonas hatte diese Frage schon in der vergangenen Nacht angesprochen –, so gab es jetzt doch wenigstens neue Hoffnung. Er war sogar überzeugt davon, dass er Darina, Kraark, Bergalf und all die anderen in der Stadt Kalvar wieder sehen würde.
Kurze Zeit später sattelte er mit flinken Handgriffen sein Schelpin und schwang sich in den Sattel.
»Bist du bereit?«, rief Talinka herüber.
»Ich bin bereit.« Er sah sich ein letztes Mal auf der Lichtung vor der Felswand um und atmete tief die frische Morgenluft ein. »Was für ein Baum ist das eigentlich, der dich da gestern fast erschlagen hätte, Minuq?«
Der Wolf, der in einigem Abstand an Trojans Seite trottete, hob den Kopf und sah zu dem Blätterdach des Baumriesen empor. »Das? Das ist eine Labunde. Allerdings noch eine sehr, sehr junge Labunde.«
Der Wald hüllte sich in ein neues Gewand. Dort, wo bisher die mächtigen Labunden das Bild beherrscht hatten, verlangten nun niedrigere immergrüne Bäume nach ihrem Recht. Mit ihren kurzen, weichen Nadeln und den herabhängenden Zapfen erinnerten sie Jonas an Hemlocktannen. Natürlich gab es auch unzählige andere Bäume und Sträucher in dem Wald. Die ungewöhnliche Reisegruppe rückte nun langsam in eine Gebirgsgegend vor.
Bald begann das Klettern, sehr zu Trojans Freude. Das Schelpin war ganz und gar in seinem Element, als es wieder über Hänge und Felsen steigen konnte. An diesem Tag zählte Jonas drei Pässe, die sie überschritten. Sie waren nicht sehr hoch, alle lagen unterhalb der Baumgrenze.
Als das Rudel am Abend auf einer Waldlichtung ankam, fühlte sich Jonas wie zerschlagen.
»Lieber fahre ich eine ganze Woche lang im Airboat über Schneidgras, als noch einen einzigen Tag auf einem Schelpin durch die Berge zu reiten.«
»Bist du vorher nie geritten?«, erkundigte sich Minuq.
»Nur auf Pferden.«
»Ah!« Der Wolf dachte lange über diese Antwort nach. »Ich denke, ich habe schon mal von ihnen gehört.«
»Glaubst du, wir können den Zeitplan deiner Mutter einhalten?«
»Ja sicher. Talinka irrt sich
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