Das Echo der Flüsterer
begutachten: Jonas brüllte den General bei dessen erster Musterung an, als wäre der nur ein einfacher Rekrut. Es war Liebe auf den ersten Blick.
Für Sarah begann nun eine Zeit, die sie an ihre eigene frühe Kindheit erinnerte. Mit einem Mal war ein kleines Bündel im Haus, das lautstark nach Liebe und Geborgenheit verlangte, und sie tat nichts lieber, als dieses Bedürfnis zu stillen. Robert nörgelte ab und an, er fühle sich vernachlässigt angesichts des »anderen Mannes«, den seine Frau mit so viel Aufmerksamkeit umsorgte. Doch diese Einwände wurden nur recht schwach vorgetragen. Der »andere Mann« entwickelte sich schnell zu Roberts »bestem Kumpel«.
Ende Mai 1948 erhielt der Journalist Robert McKenelley den Auftrag für die Washington Post einen Artikel über amerikanische Militärstützpunkte auf Kuba und den Bermudas zu schreiben. Er überredete Sarah ihn auf dieser Reise zu begleiten.
Voll düsterer Vorahnungen stieg sie bald darauf in ein Flugzeug. Jonas hatte sie der Obhut von Tom und Rose überlassen. Immer wieder fragte sie sich, ob sie den Schwiegereltern auch alle notwendigen Ratschläge gegeben hatte für den Fall, dass etwas geschah. Doch zunächst passierte nichts. Sie erlebte einige sehr glückliche Tage an Roberts Seite, die ihr wie ein langer schöner Traum vorkamen.
Dann aber holte sie auf der Bermudainsel St. George die grausame Wirklichkeit ein – in Gestalt eines Telegramms. Jonas sei an den Folgen eines Autounfalls gestorben, hieß es darin. Robert sorgte sogleich dafür, dass sie einen Platz in einer Transportmaschine bekamen, die sie in die Vereinigten Staaten zurückbringen sollte. Die Roly-Poly erreichte aber nie ihr Ziel. Selbst die verzweifelten Notrufe des Funkers wurden von niemandem empfangen. Flugzeug und Besatzung verschwanden spurlos im Bermudadreieck wie schon so viele andere Luft- und Wasserfahrzeuge zuvor.
In einer Gegend, die aus Sarahs schlimmsten Alpträumen hätte stammen können, ging die Propellermaschine nieder. Als die Besatzung das Flugzeug verließ, wurde sie von einer Herde Gnus angegriffen, die plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Später sollte Sarah erfahren, dass diese Steppentiere nur genauso erschrocken über ihr plötzliches Erscheinen in der Spiegelregion waren wie die Menschen aus der Roly-Poly, aber in diesem Augenblick dachte sie an etwas ganz anderes.
Robert umklammerte ihre Hand und zerrte sie fort. Überall waren und schwebten Kristalle. Er musste sich und seine Frau in Deckung bringen. Tausende von Hufen wirbelten Staub auf. Auch Daniel Woolbridge, Giacomo Baretti und die anderen aus dem Flugzeug mussten in diesem Augenblick geglaubt haben, ihr letztes Stündlein habe geschlagen. Jeder rannte um sein Leben.
So jedenfalls hatten Sarah und Robert die Ereignisse später rekonstruiert. Als sie selbst endlich wieder klar sehen konnten, waren sowohl Flugzeug wie Besatzung verschwunden. Wohl eher durch Zufall fanden sie einen Weg aus der Spiegelregion. Sie durchquerten ein riesiges Höhlensystem und erblickten schließlich das Licht eines sonnenlosen Tages in einer bodenlos tiefen Schlucht.
In der Höhle hatten sie auch die Scherben von Keldins Spiegel aufgelesen. Mit ihnen waren sie durch einen großen Wald gewandert und hatten schließlich unterhalb einer alten Festung ihr Lager aufgeschlagen. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um Keldins Burg.
Ein Jahr lang lebten Sarah und Robert allein am Fuße der Klippe. Dann waren ihnen die ersten Keldinianer begegnet. Bald bekamen sie regelmäßig Besuch. Das Kleine Volk begann sie um Rat zu fragen und seltsamerweise hatten sie fast immer die passenden Antworten parat. Der blaue Kristall hatte ihr Wesen verändert. Auf Azon waren sie zu den »zwei Weisen« geworden.
Robert hatte in den ersten Wochen ihres Einsiedlerdaseins die Scherben des Spiegels zusammengefügt. Und eines Abends waren sie durch Zufall darauf gekommen, den Kristall als Fenster zur Menschenwelt zu benutzen. Sie hatten über ihren kleinen Sohn gesprochen und die Heftigkeit ihrer Gefühle musste wohl das verschwommene Dunkel des Spiegels vertrieben haben: Auf einmal konnten sie den Jungen sehen, um den sich ihre Gedanken unentwegt drehten.
Seit dieser Zeit begleiteten sie ihren Sohn. Sie hatten zugesehen, wie er heranwuchs, mit welch erstaunlicher Selbstverständlichkeit er mit den Tieren umging und wie er eines Tages das Mädchen Lydia Gustavson kennen und gleich einer Schwester lieben lernte.
Von Jahr zu
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