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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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noch.«
    »Sprich sie aus. Sie sei dir schon jetzt gewährt.«
    »Wir wollen noch einen Tag länger bei euch bleiben. Die Menschen sind gerade dabei, einen Fehler zu begehen, der nicht nur ihre Welt, sondern auch die unsere zerstören könnte. Auf dem Rücken unserer Tiere ist es fast unmöglich, in den Spiegel zu schauen. Deshalb bitte ich dich um diesen Aufschub, damit wir, wenn möglich, das Schlimmste verhindern können.«
    »Wenn es euch hilft, Zeit zu gewinnen…«, Nabin vergewisserte sich durch Blicke der Zustimmung seiner Mitältesten, »dann sollt ihr auch noch einen Tag bleiben. Diesen Entschluss werde ich vor den Bewohnern der Stadt verteidigen, und wenn sie mich dafür in der Luft zerreißen.«
     
     
    »Ich hatte nicht gewusst, dass er eine Brille trägt.«
    Jonas saß vor einem großen Jadeteller und knabberte lustlos an einer Frucht, die wie eine dicke blaue Mohrrübe aussah.
    Ximon lächelte listig. Der Flüsterer – das verkleinerte Modell eines in die Jahre gekommenen Zehnkämpfers – antwortete: »Das gehört zu den vielen kleinen Täuschungsmanövern des amerikanischen Präsidenten, Jonas. Kennedy zeichnet von sich in der Öffentlichkeit gerne das Bild eines jugendlichen, dynamischen Mannes, immer wie frisch seinem Ruderboot entstiegen.«
    »Ist er das etwa nicht, sportlich, meine ich?«
    »Abgesehen von seiner Vorliebe für den Wassersport ist er ein ziemlich kranker Mann.«
    Jonas sah den Flüsterer ungläubig an. »Darina hat schon mal so etwas gesagt, aber da dachte ich, sie spräche von einer Erkältung.«
    »Einer Erkältung?« Ximon schüttelte lächelnd den Kopf. »John Fitzgerald Kennedy ist ein Mann, der, wie ihr Menschen sagt, schon mehr als einmal dem Tod von der Schippe gesprungen ist. Er hat nicht nur eine Lesebrille, die er geschickt vor der Presse verbirgt, sondern er hört auf dem linken Ohr auch schlecht. Achte einmal darauf, wie er den Kopf hält, wenn man ihn von dieser Seite her anspricht. Außerdem trägt er in der Wirbelsäule wegen eines angeborenen Rückenschadens eine Metallplatte. Offiziell heißt es, die Behinderung stamme von einer Verletzung, die er sich bei einem Fußballspiel während seiner Studienzeit zugezogen habe, und sei dann später, im Krieg, schlimmer geworden.«
    »Ein Präsident, der blind, taub und lahm ist – wirklich ein starkes Stück!«
    »Nun, so schlimm ist es nun auch wieder nicht, Jonas. Aber
    das sind noch lange nicht alle Gebrechen des Präsidenten. Wegen seines empfindlichen Magens muss er zeitweilig spezielle Diätenkuren machen; hin und wieder zieht seine Magenschwäche auch Allergien nach sich. Wirklich Besorgnis erregend ist die Tatsache, dass seine Nebennieren nicht ganz einwandfrei funktionieren. Die Menschen nennen es die Addison-Krankheit. Als du noch nicht zur Schule gegangen bist, hielt man dieses Leiden für genauso tödlich wie Krebs. 1947 hatte man ihm sogar prophezeit, er habe nur noch ein Jahr zu leben! Das erwies sich zwar als eine Fehldiagnose, aber den Folgen dieser Erkrankung konnte er trotzdem nicht entgehen: chronische Erschöpfung, Gewichtsverlust, Appetitlosigkeit, niedriger Blutdruck, Braunfärbung der Haut, Schwindelanfälle, Erbrechen, Schüttelfrost und Magenschmerzen. Er muss ständig Medikamente nehmen, damit er überhaupt arbeiten kann. Den Tag, an dem Chruschtschow in Wien mit seinen Wortattacken über ihn herfiel, konnte er nur überstehen, weil sein Leibarzt ihm vorher eine dicke Spritze verpasst hatte. Da sein Körper nicht genug natürliches Kortison produziert, muss man es ihm künstlich zuführen. Das hat andere negative Folgen: Manchmal läuft er mit einem geröteten Vollmondgesicht durch die Gegend, dann wieder muss er gegen Kopf- und Rückenschmerzen ankämpfen und ist kaum belastbar. Bedenklich sind die psychischen Folgeerscheinungen der Behandlung wie übersteigertes Selbstvertrauen und der Glaube unverwundbar zu sein. Wenn er wieder einmal besonders forsch und rücksichtslos auftritt, dann hat er sicher vorher Kortison bekommen.«
    Jonas blickte mit offenem Mund in Ximons Gesicht. »Kommt noch mehr?«
    »Ich möchte dich nicht langweilen.«
    Das war einfach unglaublich! Der Junge konnte es nicht fassen. Die Bürger der Vereinigten Staaten hatten einem Mann mit einer bedenklichen Selbstüberschätzung den roten Knopf in die Hand gedrückt, mit dem er die ganze Welt in die Luft jagen konnte. Jonas warf den Rest seiner blauen Mohrrübe auf den Teller zurück. Der Appetit war ihm endgültig

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