Das Echo der Flüsterer
Wutausbruch.
Als seine Atmung wieder normal war, setzte er sich an seinen Schreibtisch und diktierte einen weiteren Brief. Das heißt, diesmal gab er ihn nicht komplett selbst vor, sondern machte nur hier und da einige grundsätzliche Bemerkungen, während seine Berater aus dem Außenministerium den Text formulierten. Dieser zweite Brief sollte einiges zurechtrücken: Ein Abzug der Raketen aus Kuba war überhaupt nur denkbar, wenn die Vereinigten Staaten ihrerseits die Atomwaffen aus der Türkei entfernten.
Als der Brief fertig war und Chruschtschow noch einmal vorgelesen wurde, saß er aufrecht im Sessel und nickte wohlwollend seinen Genossen zu. Der Kreml war eine Schlangengrube. Nur wer Stärke zeigte, konnte überleben.
Um sechs Uhr abends traf Chruschtschows Morgenbrief aus Moskau ein. Genauer gesagt der erste Teil davon. Erst um neun Uhr hatte die US-Botschaft in Moskau alle vier Abschnitte des Schreibens übermittelt. Es schlug ein wie eine 50-Megatonnen-Bombe.
Anfangs war man völlig ratlos. Weshalb plötzlich dieser moderate Ton?
»Sehr lang, sehr emotional und sehr verwirrend«, murmelte Bobby Kennedy, als er den Brief überflogen hatte. Chruschtschow hatte mit starken Worten nicht gespart, um seiner Sorge Ausdruck zu verleihen.
Man dürfte sich nicht von »kleinlichen Leidenschaften« oder »vergänglichen Dingen« beeinflussen lassen, beteuerte der Kremlchef, sondern müsse sich darüber im Klaren sein, dass, »falls wirklich Krieg ausbräche, es nicht mehr in unserer Macht liegen würde, ihn zu beenden, denn das ist sein Gesetz. Ich habe zwei Kriege mitgemacht und weiß, dass er erst dann aufhört, wenn er Städte und Dörfer durchpflügt und überall Tod und Vernichtung gesät hat.« Nachdem Chruschtschow hoch und heilig versprochen hatte die Waffen auf Kuba nie gegen die Vereinigten Staaten einzusetzen und dadurch womöglich ein gegenseitiges Abschlachten in Gang zu bringen, gelangte er zu der Feststellung: »Nur Wahnsinnige oder Selbstmörder, die den Tod suchen und die ganze Welt zerstören möchten, bevor sie sterben, wären dazu imstande.« Im weiteren Verlauf des Schreibens gestand er zum ersten Mal die Existenz von sowjetischen Raketen auf Kuba ein. Aber deren Abzug stünde nichts im Wege, wenn die Vereinigten Staaten ihrerseits versprächen Kuba in Frieden zu lassen und die Seeblockade aufzuheben.
Dann zeigte der Brief noch einmal Chruschtschows ganze Verzweiflung: »Daher kann nur ein Wahnsinniger glauben, dass Waffen für das Leben der Gesellschaft das Wichtigste seien. Nein, sie bedeuten eine Verschwendung menschlicher Energie, und mehr noch, sie führen die Zerstörung der Menschen selbst herbei. Wenn die Menschen nicht einsichtig werden, wird es schließlich zu einem Zusammenstoß kommen, wie bei blinden Maulwürfen, und dann wird die gegenseitige Ausrottung beginnen.«
Jonas gefiel der Brief Chruschtschows erheblich besser als die Fernsehansprache Kennedys. Allmählich gewann er seine Hoffnung zurück, die Menschheit könne doch noch dem Absturz in den atomaren Abgrund entgehen. Beruhigter als noch am Morgen kehrte er in den Muschelpalast zurück.
Ähnlich wie Jonas beurteilten jetzt wohl auch die Zuständigen im Weißen Haus die Lage. Wie er am nächsten Tag von der »Nachtschicht« aus der Flüstererhöhle erfuhr, hatten Kennedys treue Recken bis in den frühen Morgen über dem Brief gebrütet. Stellte er nur eine Finte dar? Nein, das wäre zu plump. Außerdem gab es ja da dieses merkwürdige Gespräch, das der State-Department-Korrespondent John Scali mittags mit dem sowjetischen Botschaftsrat geführt hatte. Scali hatte sich danach am Abend mit Dean Rusk und dessen Mitarbeiter Roger Hilsman getroffen und ihnen von dem Angebot Fomins berichtet. Offenbar gab es da endlich ein Umdenken in der Höhle des Bären. Man beschloss schließlich in den frühen Morgenstunden des Samstags mit einer genauen Analyse des Briefes und mit der Ausarbeitung von Vorschlägen zu beginnen, um Chruschtschow in geeigneter Form antworten zu können.
Einige der ExComm-Mitglieder schliefen schon, als in der sowjetischen Botschaft ein geheimes Treffen stattfand. Es war nicht das erste und würde auch nicht das letzte seiner Art sein. Seit Georgij Bolschakow als Chefunterhändler durch Anatoli Dobrynin abgelöst worden war, pflegten Robert Kennedy und der Sowjetbotschafter einen regen Gedankenaustausch.
Dobrynin drang in dem nächtlichen Gespräch darauf, die Raketen in der Türkei in ein
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