Das Echo der Flüsterer
abreisen zu lassen. Als man auseinander ging, setzte schon die Morgendämmerung ein und Syrda bezeichnete es als »unverantwortlich, Darina einen sofortigen Aufbruch zuzumuten«.
Die Flüsterer hatten schwere Bedenken gegen einen Aufschub der Abreise geäußert. Die Lage auf der Erde habe sich noch nicht richtig stabilisiert. Bis zu der Stunde, als die Facettenbilder verblassten, war klar zu erkennen gewesen, dass Chruschtschow seine Raketen nicht ganz ohne schriftliche Garantien der Vereinigten Staaten aus Kuba zurückziehen werde. Kennedy sollte ihm zusichern, dass es weder eine Invasion auf Kuba noch einen von den USA unterstützten Putschversuch gegen Fidel Castro geben würde. Im Weißen Haus sonnte man sich aber im Erfolg des eigenen harten Kurses. Kennedy, seine Berater und andere Politiker der USA wollten sich den errungenen politischen Vorteil partout nicht nehmen lassen. Der Triumph schien ihnen wichtiger zu sein als eine endgültige, schnelle und sichere Beilegung der Kubakrise.
Syrda hatte sich schließlich durchgesetzt. Sie zeigte mit knochigem Finger auf Darinas fahles Gesicht und sagte beinahe drohend: »Seht sie doch an! Wollt ihr sie in diesem Zustand durch den Kimbaroth und in Kanthelms Arme hetzen? Soll die Wissende so seiner Tücke und Bosheit trotzen?«
Alle hatten betreten den Blick abgewandt. Darina sah wirklich erbärmlich aus.
Darauf meldete sich die Wissende noch ein letztes Mal zu Wort: »Gebt mir die Kraft eines Tages.« Dieser schlichten Bitte hatte niemand etwas entgegenzusetzen.
Jonas erwachte um die Mittagszeit. Er hatte nicht ganz sechs Stunden geschlafen. Erstaunlicherweise fühlte er sich einigermaßen frisch. Es war wohl vor allem die lastende Ungewissheit der herannahenden Gefahr gewesen, die ihm, übertragen von Darina, dermaßen zugesetzt hatte. Nachdenklich ließ er den grünen Freundschaftsstein an der Halskette vor seinem Gesicht hin und her pendeln. Manchmal konnte Freundschaft schon eine schwere Bürde sein.
Und trotzdem: Er betrachtete sich gewissermaßen als Darinas Ritter. Es war seine heilige Pflicht, sie zu beschützen. So wie Lanzelot für das Wohl der schönen Guinevere eintrat, sie liebte und doch nie zur Frau gewann, so wollte er für Darina da sein, egal wann oder wo sie ihn brauchte.
Im Moment schlief sie noch. Deshalb machte Jonas allein einen Spaziergang durch die Straßen Laomars. Besorgt stellte er eine merkwürdige Veränderung fest. Erst glaubte er, seine Augen seien nur vom Schlaf verklebt, aber nachdem er sie ausgiebig gerieben hatte, verstärkte sich der Eindruck noch.
Die Stadt war farblos geworden.
Er korrigierte sich. Die Farben Laomars waren natürlich nicht über Nacht durch Schwarzweißtöne ersetzt worden, aber ein Verblassen konnte Jonas ganz deutlich feststellen. Er erinnerte sich an verschiedene Fassaden, die ihm bereits aufgefallen waren, als er das erste Mal durch diese Straßen ging. Damals hatte er leuchtendes Rot und flammendes Orange gesehen. Jetzt erschienen diese Fassaden so reizvoll wie eine ausgebleichte Fotografie.
Irgendwann fand er sich auf dem Pfad zu Syrdas Haus wieder und da er nun schon einmal so weit gekommen war, erklomm er auch die Klippe. Oben angelangt, klopfte er zaghaft an die Tür des Schneckenhauses. Keine Antwort. Er klopfte ein zweites Mal. Endlich vernahm er schlurfende Schritte.
»Jonas, wie nett!«, begrüßte ihn die Alte. Sie sah etwas durcheinander aus.
»Ich hoffe, ich habe dich nicht gestört, Syrda.«
»Ach wo, Kindchen. Ich bin nur gerade erst wach geworden. Aber das macht nichts. Wir Alten werden nicht oft von euch Jungen besucht. Da muss man jede Gelegenheit beim Schopf packen. Komm nur rein. Ich koche uns einen Muntermacher.«
Jonas folgte der gebeugten Greisin in ihr Perlmuttdomizil.
»Wo hast du Kraark gelassen?«, erkundigte sich Syrda, während sie einen Topf mit Wasser über dem Feuer aufhängte.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich lässt er sich mal wieder die Luft um den Schnabel wehen. Das ist eine seiner Lieblingsbeschäftigungen.«
»Wie es sich für einen Vogel gehört.«
Jonas lachte. Er mochte diese Alte und ihre bunten Flickengewänder. Dann wurde er wieder ernst.
»Hast du schon die Veränderung der Farben bemerkt?«
Syrda nickte schwer. »Azon verblasst. Der Kristall ist von der Erde abgeschnitten, wie Darina es gesagt hat.«
»Aber dass alles so schnell geht.«
»Es wird noch Jahre dauern, Kindchen. Dies ist nur der Anfang. Irgendwann – vorausgesetzt unsere Welt
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