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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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zerbricht nicht zuvor – wird es gar keine Farben mehr geben. Danach wird alles durchsichtig werden. Dann werden wir nicht einmal mehr die Konturen unserer Körper erkennen, aber immer noch existieren. Wie Geister werden wir herumirren, bis auch das ein Ende hat.«
    Jonas sah die Alte entsetzt an.
    »Nun schau nicht so, Kindchen.« Syrda lächelte Jonas aufmunternd zu. »Noch haben die Malkits nicht gewonnen. Wird auch nur ein kleiner Teil des Kristalls befreit, kann das Ausbleichen unserer Welt aufgehalten werden. Und wenn sich dann der blaue Stein zu reinigen beginnt, werden die Farben allmählich zurückkehren.« Sie holte so geräuschvoll Atem, dass man glauben konnte, jemand scharre in einem Keller die letzten Kohlen zusammen. »Und nun setz dich und versuch mal zur Abwechslung an etwas anderes zu denken. Der Tee ist gleich fertig.«
    Sie plauderten eine Weile so ungezwungen, als hätte es das furchtbare Ereignis der letzten Nacht überhaupt nicht gegeben. Jonas kam zu der Überzeugung, dass alte Menschen wohl die Schrecknisse des Lebens aus einem ganz anderen Blickwinkel sahen als die Jungen.
    Mit einem Mal erhob sich Syrda ohne ein Wort und verließ den Raum. Jonas hörte sie im Nachbarzimmer herumkramen. Kurz darauf kam sie zurück und hielt ihm einen kleinen glitzernden Gegenstand vor die Nase.
    »Weißt du, was das ist, Jonas?«
    »Ich würde sagen, ein Fingerhut.«
    »Ein Blumentopf jedenfalls ist es nicht«, gab Syrda ihm Recht. »Mit diesem Fingerhut hat es eine besondere Bewandtnis, Kindchen.«
    Sie legte Jonas das kleine glitzernde Ding in die Hand und erklärte, es sei aus einem weißen Kristall gearbeitet, der wie die Bilmsteine eine außergewöhnliche Eigenschaft besitze. Der Fingerhut könne seinem Träger sozusagen eine Maske überstülpen.
    »Eine Maske?«, fragte Jonas erstaunt. Er betrachtete den Fingerhut von allen Seiten. Außen überzogen ihn winzige Pyramiden, so klein, dass sie mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen waren. Das Licht brach sich auf der Oberfläche in allen Farben des Regenbogens.
    »Du kennst wahrscheinlich die Sinnsteine von Goldan und Bergalf«, erläuterte Syrda. »Der eine faltet Azons Gestalt und der andere das Licht, sodass Bergalf beinahe jedes beliebige Trugbild entstehen lassen kann…«
    »… um damit sogar Gorrmacks in die Flucht zu schlagen«, erinnerte sich Jonas schmunzelnd, ohne die Augen von dem Fingerhut zu nehmen.
    »So ähnlich funktioniert auch dieser kleine Gegenstand. Du musst ihn nur auf den Finger stecken und dir ganz fest eine bestimmte Gestalt vorstellen. Komm, ich zeige es dir.«
    Syrda hievte ihren krummen Rücken wieder in die Höhe, nahm Jonas’ Hand und zog ihn zwei Kammern tiefer in ihr Schneckenhaus hinein. »Hier, stell dich vor den Spiegel und verwandle dich in… in… eben in irgendjemanden.«
    Jonas sah erst die Alte an, dann den Fingerhut.
    »Nun mach schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit«, drängte Syrda. »Du musst denken: Ich will jetzt so aussehen wie…«
    »Würde es auch mit einem Teekessel funktionieren?«
    »Von einem Jungen wie dir hätte ich wirklich etwas mehr Phantasie erwartet, oder hast du schon einmal einen Teekessel auf zwei Beinen gesehen?«
    Jonas seufzte. Er blickte intensiv in den Spiegel und stellte sich eine Person vor, für die er im Augenblick nicht besonders viel Phantasie benötigte.
    »Was soll der Unsinn?«, rief Syrda, als sie sich plötzlich doppelt sah – zuerst im Spiegel und dann leibhaftig noch ein zweites Mal anstelle des Jungen.
    »Du hast gesagt, ich soll mir irgendjemanden vorstellen«, antwortete die falsche Syrda mit Jonas’ Stimme.
    »Ja, aber doch nicht so eine alte Vettel wie mich. Ich bitte dich!«
    Ehe Jonas sich’s versah, zeigte der Spiegel wieder seine vertraute Gestalt. »Das ist ja toll!«
    »Alberner Kinderkram. Ich hätte das Ding fast nicht mehr gefunden.«
    »Hast du ihn auch von – wie hieß er doch gleich? – diesem Seefahrer geerbt?«
    »Limba?« Syrda lachte rau. »Die alte Teerjacke konnte ja nicht mal ein Segel flicken. Aber da er mein Urururgroßvater war, muss er ja wohl auch irgendwann eine Frau gehabt haben.«
    »Dann stammt das Wunderding also von deiner Urururgroßmutter?«
    »So ist es. Sie hat Limba um zwölf Jahre überlebt. Frauen sind eben einfach zäher als dieses wehleidige Mannsvolk.«
    Jonas lächelte nachsichtig. Irgendwie fiel es ihm schwer, dieser alten Kräuterhexe böse zu sein, egal wie grob ihre Sprüche auch ausfielen. Er streckte Syrda die

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