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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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anderen Welt leben. Einer Welt, die nicht die seine war.
    Der Abschied am nächsten Morgen zerriss ihm fast das Herz. Lydia sagte noch immer nichts. Sie stand ihm nur gegenüber. Ihre blauen Augen glänzten im Licht der jungen Sonne wie kostbare Brillanten. Es war der Glanz der Tränen. Zu mehr war sie nicht fähig.
    Der Junge tat oft Dinge, die andere schwer mit seinem Alter in Einklang bringen konnten. So nahm er jetzt Lydia in die Arme, drückte sie fest an sich und als sein Kopf dicht neben dem ihren war, flüsterte er: »Du brauchst nichts zu sagen. Ich weiß, wie sehr du deine Mutter vermisst. Ich weiß es wirklich! Aber der Schmerz wird irgendwann anders werden. Vergehen wird er nicht, aber weiter weg wird er sein. Du sollst wissen, dass du dann einen Bruder hast: mich. Ich werde auf dich warten, Lydia. Komm zurück! Wir sind zusammen durch die Glades gestreift. Wir beide lieben sie. Hier ist unser Frieden. Wenn du zurückkommst, werde auch ich da sein.«
    Als der Junge seine Freundin vorsichtig von sich schob und in ihre Augen sah, blickte er in eine bodenlose Tiefe. Es gelang ihm nicht ganz, die eigenen Tränen zurückzuhalten. Hatte sie ihn überhaupt gehört?
    Der alte Chrysler von Christian Gustavson hinterließ eine stinkende Qualmwolke, als er vom Hof der Alligatorenfarm rollte. Was für ein jämmerlicher Abschied, dachte der Junge, blieb aber trotzdem stehen, bis das Fahrzeug nicht mehr zu hören war. Lydias Augen gingen ihm nicht aus dem Sinn.
    Am Anfang schrieb er ihr jede Woche. Lydia antwortete nie. Nach sechs Monaten gelang es ihm endlich, seinen Großvater zu einer Fahrt nach Miami zu überreden. Als sie bei der Adresse ankamen, die Christian Gustavson hinterlassen hatte, fanden sie nur ein leeres, baufälliges Haus vor.
    »Ich kümmere mich nicht um andere Leute«, verriet ein früherer Nachbar der Gustavsons dem General vertrauensselig. »Irgendwas stimmte nicht mit der Kleinen von dem Schweden. Hat nie ‘n Wort gesagt. Immer nur leer vor sich hin gestarrt. Er ist bald wieder weggezogen. Keine Ahnung, wohin.«
    Der alte Tom und sein Enkel fuhren am Abend heim nach Muddy Creek. Sie waren so ratlos wie zuvor. Lydia und Christian hatten sich in Luft aufgelöst.
    Der Junge war tagelang geradezu betäubt. Er hatte Lydia geliebt wie keinen anderen Menschen. Er liebte natürlich auch seine Eltern, aber sie waren nicht bei ihm. Auch die Großeltern, aber die waren schon immer da gewesen. Lydia war weder das eine noch das andere. Vor so kurzer Zeit erst hatte er dieses ernste Mädchen entdeckt, hatte doch gerade erst begonnen ihm Freude zu schenken, mit ihm zu teilen, wie man nur mit seiner Schwester teilt – und jetzt war es weg. Er glaubte, ein Stück von ihm selbst sei ihm verloren gegangen. Er hatte zu nichts mehr Lust, fühlte sich leer und verbrachte viele Stunden allein in den Sümpfen.
    Nach etwa sechs Monaten wurde das Gefühl der inneren Leere schwächer. Allmählich begann er wieder am Leben teilzunehmen, sehr zur Freude seiner Großeltern. Dennoch blieben ihm die Worte, die er Lydia zum Abschied ins Ohr geflüstert hatte, ins Gedächtnis eingebrannt. »Der Schmerz wird irgendwann anders werden. Vergehen wird er nicht, aber weiter weg wird er sein.«

 
    DIE WISSENDE
     
     
     
    Jonas’ Stimme war wie ein Rinnsal versickert. Er fühlte sich unendlich müde, aber auch seltsam erleichtert. Blinzelnd öffnete er die Augen. Während er seine Geschichte erzählt hatte, musste er sie irgendwann geschlossen haben. Erst jetzt bemerkte er, dass der Stoff unter dem Herzen des Mädchens ganz feucht war. Hatte er geweint? Seine Empfindungen waren wie ein offenes Buch gewesen. Er hatte nichts verschwiegen, nichts außer seinem Namen. Beschämt sah er von den Händen des Mädchens auf, die er noch immer fest in den seinen hielt.
    Doch in den Gesichtern der Bonkas lag kein Spott. Niemand belächelte ihn. Er sah nur tiefe Anteilnahme. Hier und da gab es auch einige Tränen.
    »Du hast gut daran getan, uns deine Geschichte zu erzählen«, sagte Syrda mit sanfter Stimme.
    Die Worte der Weisen schienen nur langsam in Jonas’ Bewusstsein zu sickern. Syrda hatte ihn durchschaut. Ihre Augen funkelten lebendig wie die eines jungen Mädchens, als sie ihn geheimnisvoll lächelnd anblickte. Doch dann entdeckte er etwas anderes, schier Unglaubliches.
    Jonas hielt den Atem an und riss vor Staunen die Augen auf. Er suchte fieberhaft noch einmal nach der tränenfeuchten Stelle auf dem Gewand des Mädchens. Und

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