Das Echo der Flüsterer
Mädchens auf. Ein erwartungsvoller Ausdruck stand in dreizehn ernsten Gesichtern.
»Ihr wollt, dass ich die Hälften zusammenfüge.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Wir können dich nicht dazu zwingen«, antwortete Belkan ausdruckslos. »Die Bilme sind sehr kostbare Geschenke, die nur wenige erhalten. Bei uns gilt es als Zeichen großer Missachtung, wenn jemand sich von seinem Sinnstein trennt.«
Jonas sah verwundert in die traurigen Augen des Bonkas. Als er bemerkte, wie die gerade erst aufgelebte Hoffnung wieder aus den Gesichtern der Ältesten zu schwinden begann, fühlte er Zorn in sich aufsteigen. »Ich muss zugeben, es fällt mir schwer, euch zu verstehen«, empörte er sich. »Erst brecht ihr mit euren Traditionen, indem ihr einem Fremden wie mir nicht traut, und jetzt klammert ihr euch an die alten Bräuche, obwohl sie die einzige Hilfe für dieses schlafende Mädchen unmöglich machen.« Noch ehe jemand etwas erwidern konnte, griff Jonas nach dem Kristall des Mädchens, drehte in der anderen Hand sein Gegenstück in die richtige Position und legte die beiden flachen Seiten der Halbkugeln aneinander. Die Hälften passten so gut, als würden sie miteinander verschmelzen. Dann – er wusste nicht recht, warum – fügte er die Hände des Mädchens unter seinem Herzen zusammen und legte die eins gewordenen Bilme hinein.
Sogleich erfüllte ein helles Funkeln den Alkoven. Blaue Sterne huschten über Wände und Decke der Nische. Etwas schien in dem Kristall zu erwachen. Die glitzernden Pünktchen der Hälften umkreisten einander. Während der Wirbel immer schneller wurde, begann auch Jonas unweigerlich rascher zu atmen. Mit geweiteten Augen blickte er in das Antlitz des schlafenden Mädchens. Er musste an Lydia denken. Ihre blauen Augen. Sie hatten dieselbe Farbe wie das Licht der Bilme.
Unvermittelt hob sich der Brustkorb des Mädchens zu einem tiefen Atemzug. Jonas hielt die Luft an. Die Lider des Mädchens zuckten zwei-, dreimal, dann flatterten sie wie Schmetterlingsflügel und zuletzt öffnete es die Augen. Sie waren blau, was Jonas kein bisschen überraschte. Später hatte er es immer bedauert, dass er in diesem Moment nicht länger in ihre Augen hatte sehen können. Wie gerne hätte er ihr auch beim Aufrichten geholfen, sie bei ihren ersten Schritten an der Hand gehalten! Leider gab sein Körper jetzt mit einem Mal der Aufregung und Anstrengung nach: In dem Augenblick nämlich, als die Wissende erwachte, begann sich um Jonas alles zu drehen. Dunkelheit legte sich wie ein dichtes schwarzes Tuch um seinen Geist.
DIE HÖHLE DER FLÜSTERER
Jonas erwachte wie ein Bär aus seinem Winterschlaf: sehr langsam und sehr hungrig. Er schlug nicht gleich die Augen auf, sondern genoss einige Minuten lang die zahlreichen angenehmen Signale, die ihm sein Körper sandte. Das Bett, in dem er lag, war warm und weich, ebenso wie die Hände, die seine Rechte streichelten.
»Es ist kein Traum. Du darfst ruhig die Augen öffnen.«
Die Stimme klang hell und klar, belustigt, aber nicht spöttisch.
Jonas drehte den Kopf zur Seite und wagte ein leichtes Anheben der Lider. Unscharf zeichnete sich vor ihm eine schlanke Silhouette ab: ein Kopf, umgeben von einem Strahlenkranz, schmale Schultern in einem malvenfarbenen Gewand.
»Wie geht es dir?«, fragte die helle Stimme.
Jonas schlug nun vollends die Augen auf und hielt den Atem an. Das Mädchen saß vor einem Fenster, durch das helles Licht flutete. Millionen feiner Staubkörnchen schwebten in der Luft. In seinem Haar schien ein goldenes Feuer zu brennen. Jonas wagte nicht sich zu rühren. Dieses Gesicht, das Lächeln, die Statur – alles war ihm so vertraut! Das Mädchen glich einem scheuen Reh, so anmutig, so zierlich wirkte es. Er öffnete den Mund, aber es gelang ihm nicht, zu sprechen. Die Angst war zu groß, er könne dieses Bild verscheuchen.
Das Mädchen strich ihm mit der Hand über die Stirn. »Fieber scheinst du jedenfalls nicht zu haben. Komisch, dass du trotzdem nicht sprechen kannst. Syrda meinte, ich müsse mir keine Sorgen um dich machen, aber vielleicht sollte ich gehen und sie rufen…«
»Nein!«, stieß Jonas hervor. Sein Oberkörper fuhr hoch – erstaunt registrierte er, dass seine Kopfschmerzen verschwunden waren. »Nein, bleib bitte hier. Es geht mir schon viel besser.«
»Das freut mich«, antwortete das Mädchen prompt. »Du bist also Jonas McKenelley, mein Retter?«
»Sag bitte Jonas zu mir, das reicht
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