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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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tatsächlich! Da sah er es.
    »Sie atmet!« Seine Stimme war wie ein kleiner Vogel, der sich aufgeregt flatternd in die Lüfte schwingt. »Seht nur, ihr Gewand: Es hebt und senkt sich.«
    Der Oberälteste Belkan schob sich, erstaunlich behände, in den schmalen Alkoven und trat auf die andere Seite des Ruhebetts. Sein Gesicht strahlte vor Glück. »Du hast wirklich ein Wunder vollbracht, Jonas McKenelley. Dank sei dir dafür.«
    »Jetzt verstehe ich, was Syrda meinte, als sie sagte, in eurer Welt hätten die Geschichten des Herzens große Kraft. Sie können wirklich Wunder wirken!«
    »Niemand sollte das besser wissen als wir, Jonas. Und dennoch haben wir das Gesetz unseres Volkes verleugnet und dich wie einen Feind behandelt. Ich könnte verstehen, wenn du uns das nicht verzeihen willst, und dennoch möchte ich dich darum bitten.«
    »Schon in Ordnung… unter einer Bedingung.«
    Belkan runzelte die Stirn. »Du hast allen Grund uns unsere Kurzsichtigkeit spüren zu lassen. Was verlangst du?«
    Jonas lächelte müde. »Sagt bitte Jonas zu mir. Ohne das McKenelley am Ende. Das klingt viel freundlicher, finde ich.«
    Der Oberälteste musterte seinen Gast mit starrer Miene. Dann fing er plötzlich an zu lachen. Im Nu war der ganze Kristallsaal von erleichtertem Gelächter erfüllt. Als er sich wieder gefasst hatte, sagte Belkan: »Dann aber solltest auch du uns nicht so förmlich anreden, Jonas. Sprich zu uns wie zu Freunden, denn das wollen wir dir sein.«
    Jonas lächelte in die Runde der alten Männer. Goldan hatte sich zu ihm durchgeschoben und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Syrda nickte zufrieden. Da bemerkte Jonas Kraarks aufgeregtes Wippen. Der Rabe hob und senkte den Oberkörper, als folge er dem Takt einer unhörbaren Trommel.
    »Was ist mit dir?«, wandte sich Jonas an den Vogel. »Freust du dich nicht über ihr Erwachen?«
    »Ich weiß nicht recht, ob sie wirklich wach ist«, erwiderte Kraark.
    Jonas blickte erschrocken auf das Gesicht des Mädchens. Ihre Haut wirkte nicht mehr ganz so weiß wie zuvor, aber Kraark hatte Recht: Die Augen waren noch immer geschlossen. Sie atmete. Aber sie schlief. »Vielleicht muss sie sich erst ausruhen«, meinte er besorgt.
    »Sie hat sich vier Jahre lang ausgeruht, Jonas. Findest du nicht, das ist genug?«
    »Was hat Korax gesagt?«, fragte Syrda, obwohl sie es schon ahnte.
    »Das Mädchen wacht nicht auf«, antwortete der Junge. Er suchte nach ihren Händen, die er für einen Moment losgelassen hatte. Dabei berührte er etwas Hartes, das auf der Liege unter den Falten ihres Gewandes verborgen lag. Vorsichtig schob er den duftigen Stoff auf der Höhe ihrer Taille zur Seite – und blickte verblüfft auf den Gegenstand, der schon die ganze Zeit dort gelegen haben musste.
    »Das… das ist…« Er brachte keinen zusammenhängenden Satz heraus.
    »Ein Bilm«, erklärte Syrda geduldig. »So nennen wir die Sinnsteine.«
    »Aber ich…«
    »Das ist ganz einfach, Jonas. Die Sinnsteine sind, wie die Legende sagt, Bruchstücke vom blauen Kristall. In jedem dieser Steine wohnt eine andere Gabe. Sie sind sehr kostbar! Wenn jemand einen Sinnstein besitzt, dann gibt er ihn weiter an seine Kinder und diese vererben ihn wieder an die nächste Generation. Selbst in unserem Ältestenrat gibt es nur wenige, die einen Bilm ihr Eigen nennen. Aber alle Wissenden sind auch Träger der Bilme…«
    »Das… das meine ich nicht«, gelang es Jonas endlich, die Erklärung Syrdas zu unterbrechen. Er schob seine Hand in die Hosentasche und förderte den Kristall zu Tage, den er in der Spiegelregion gefunden hatte. Oder sollte er sagen, der Stein hatte ihn, den Wanderer Jonas, gefunden? »Es ist seine Form, die mich so aus der Fassung gebracht hat«, sagte er leise.
    Und tatsächlich! Jetzt wo er die Halbkugel mit der flachen Seite nach oben zeigte, konnten die anderen sehen, was er meinte. Der Stein hatte nicht nur dieselbe Farbe und Größe des anderen, der an der Seite des Mädchens lag, zu der sechseckigen Vertiefung in Jonas’ Kristall gab es in dem zweiten eine Entsprechung: eine kleine Pyramide mit sechs Kanten.
    »Sie sind in Wirklichkeit die beiden Teile eines Ganzen«, flüsterte Jonas. Die Erkenntnis drohte ihn zu überwältigen. Wie hatten diese beiden Hälften des Sinnsteines nur nach vier Jahren und über ein so großes, so chaotisches Gebiet wie die Spiegelregion hinweg zueinander finden können?
    Als niemand etwas erwiderte, sah Jonas von dem blauen Stein an der Seite des

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