Das Echo der Flüsterer
herumstanden und in die Richtung blickten, in welche der Riesenalligator verschwunden war.
»Old Big Shadow hat uns erlaubt nach Lydia zu suchen«, fügte er hinzu und endlich erwachten die Bürger von Muddy Creek aus ihrem tranceartigen Zustand. »Sucht nach den Hügelnestern der Panzerechsen. Aber kommt ihnen nicht zu nahe – das mögen die Alligatorenmütter nicht besonders. Irgendwo in der Nähe eines der Nester muss Lydia sein.«
Er konnte sich selbst nicht erklären, wie er auf diesen Gedanken gekommen war. Manchmal hörte er einfach auf seine innere Stimme. In dieser Nacht hatte sie ihn an das Gespräch mit der traurigen Lydia vor einigen Wochen erinnert, als er – genau an diesem Ort – von dem Fleiß der Alligatorenmütter geschwärmt hatte. Lydias Gedanken waren bei ihrer eigenen Mutter gewesen… Sie musste hier irgendwo stecken! Er war sich da ganz sicher.
Eine knappe Stunde später hatte man Lydia Gustavson gefunden. Sie wirkte sehr erschöpft und – angesichts der vielen Menschen um sie herum – auch ziemlich verstört, sonst schien ihr aber nichts zu fehlen. Paul Friedmann und Joe Brown, seine rechte Hand im Laden, hatten sie ganz in der Nähe eines verlassenen Hügelnestes gefunden. Ihr Erfolg war in mehrfacher Hinsicht ein glücklicher Umstand. Vor allem, weil sich Lydia nun in Sicherheit befand, dann aber auch, da der Bürgermeister selbst die entscheidende Entdeckung gemacht hatte. Paul Friedmann war ohnehin beliebt, jetzt aber schien ihm der Sieg bei der nächsten Bürgermeisterwahl so gut wie sicher.
Auch für den Jungen war Lydias Rettung ein glückliches Ereignis. Nur freute er sich lieber im Stillen, statt lauthals zu jubeln. Das war eben so seine Art. Und als er an der Seite Lydias (umringt von Helfern, die sich zu ihrer eigenen Leistung beglückwünschten) zurück nach Muddy Creek wanderte, war dies für ihn der schönste Moment in seinem Leben.
Eigentlich war ja er der Held des Tages, wenn ihm auch wenig daran lag. Seinen untrüglichen Instinkt, mit dem er die Suchmannschaften zuletzt doch noch in das richtige Gebiet geführt hatte, betrachtete er fast als etwas Normales. Hier draußen tat er oft Dinge, die er für richtig hielt, ohne genau zu wissen, warum. Selbst der Erfolg der Suchaktion, für deren Fortsetzung er sich so entschlossen eingesetzt hatte, machte ihn nicht stolz oder selbstzufrieden. So etwas Besonderes war es doch gar nicht, was er da getan hatte. Andere Kinder erlernten doch auch spielerisch zwei oder mehr Sprachen, wenn ihre Eltern aus unterschiedlichen Ländern stammten. Auf ähnliche Weise hatte der Junge auf der Alligatorenfarm seines Großvaters die Körpersprache der Reptilien kennen gelernt. Irgendwann war in ihm der Wunsch entstanden selbst zu den Alligatoren ins Wasser zu steigen, mit ihnen zu »sprechen«. So weit jedoch war er bisher nie gegangen. Aber als ihm Lydias Rettung nur noch auf diese Weise möglich schien, hatte er keine Sekunde gezögert.
Der stille Junge glaubte, die glückliche Wendung sei hauptsächlich auf das unerwartete Erscheinen von Old Big Shadow zurückzuführen und weniger auf die eigene Leistung. Alle hatten gedacht, der Riesenalligator würde ihn schnell und restlos verschlingen. Als ihn diese Fleisch gewordene Legende aber verschonte, fielen plötzlich Mauern in den Köpfen der Männer. Der Wall aus Furcht, den sie gemeinsam errichtet und durch gegenseitige Bestätigung so lange aufrechterhalten hatten, stürzte endgültig zusammen, als – nur einen Augenblick lang – sich jeder von ihnen an der Stelle von Toms Enkel sah: im Wasser, bei Old Big Shadow.
In den darauf folgenden Tagen musste der Junge feststellen, dass Lydias Rettung nur einen teilweisen Erfolg darstellte. Sie hatte sich verändert. Wenn sie früher schon ruhig gewesen war, so konnte man nun denken, sie sei stumm geworden. Drei Tage lang versuchte er vergeblich ihr wieder ein wenig Freude zu vermitteln. Dann erschien Lydias Vater auf der Alligatorenfarm.
»Wir ziehen nach Miami. Morgen schon. Ich habe dort einen Job bekommen. Es geht nicht anders – Astrids Krankheit hat unsere letzten Ersparnisse gefressen.« Christian Gustavson war nie ein Mann vieler Worte gewesen (vielleicht, weil das Englische ihm noch immer nicht geläufig war).
Für den Rest des Tages verbarrikadierte sich dann der Junge in seinem Zimmer. Er war wie vor den Kopf gestoßen, ahnte er doch, dass dieser Umzug mehr als nur ein Auseinanderrücken bedeutete. Lydia würde von nun an in einer
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