Das Echo der Flüsterer
Jonas. Manchmal erschafft der Kristall ein sehr genaues Abbild von einem Menschen. Das geschieht immer dann, wenn man dem großen blauen Stein sehr nahe ist.«
»Der Himmelsstein!«, keuchte Jonas.
Darina zog ihre Hände erschrocken zurück.
»An deine ungestüme Art muss ich mich wohl erst noch gewöhnen.«
»Entschuldige. Eigentlich bin ich ein ruhiger Typ, aber wenn es um Lydia geht…« Sein Stimme stockte und er fühlte, wie ihm wieder das Blut in den Kopf schoss. »Ich wollte sagen, dass es in den Sümpfen, bei mir zu Hause, einen blauen Stein gibt. Felsen sind dort eine große Seltenheit. Deshalb sagen die Indianer, der Himmelsstein sei eine Träne Manitus.«
»Erzähl weiter!«
»Der Felsen gehört zu meinen Lieblingsplätzen… Kennst du meine Geschichte?«
Darina nickte verstehend. »Du hast ja beim Erzählen meine Hände gehalten. Dein Gedanke dürfte der Wahrheit ziemlich nahe kommen, Jonas. Als Lydia in ihrer Verzweiflung in die Sümpfe floh, ruhte sie sich auf dem Himmelsstein aus. Du musst wissen, der große blaue Kristall ist nur das Herz dessen, was vor Urzeiten auf die Erde fiel.«
»Wie meinst du das?«
»Der blaue Kristall wurde erschaffen, als das Universum selbst ins Dasein trat. Schon in diesem ersten Augenblick des Seins gab es die Gesetze der Natur, aber sie waren zusammengeballt, so als hieltest du einen ganzen Schneesturm in deiner hohlen Hand. Als der Kristall dann seine lange Reise begann, nahm er Kräfte mit sich, die an keinem anderen Ort des Universums auf diese Art vereint waren und auf diese Art aufeinander einwirkten wie in dem blauen Stein. Nach langer Wanderung schließlich traf er auf die Erde.«
»Der Kristall ist ein Meteor!«
»Ein paar wenige Augenblicke lang war er das«, pflichtete Darina ihm bei. »Sobald er die Haut der Erde berührte, begann er zu glühen und wurde flüssig. Einen gewaltigen Schweif bildend zog er über den Himmel und stürzte bald darauf ins Meer. Auf seinem Flug verlor er immerfort Tropfen des glühenden Gesteins. An den Stellen, wo diese niedergingen, erstarrten sie zu blauen durchscheinenden Brocken. Manche von ihnen waren ziemlich groß, andere nur sehr klein. Als dann aber der Kristall auf der Oberfläche des Ozeans auftraf, gab es eine gewaltige Explosion. Tausende weiterer Tropfen und Millionen von Tröpfchen schwirrten nach allen Seiten davon. Das Herz des Kristalls überlebte den Aufprall und sank auf den Grund des Meeres. Sein Kommen brachte Tod und neues Leben. Die Erde wurde von einer Eiszeit überzogen. Doch während oben die großen Echsen starben, wuchs unter dem blauen Kristall eine neue Welt heran.«
»Azon«, sagte Jonas feierlich.
Darina nickte. »Meine Welt ist ein Abbild der deinen, Jonas. Kein besonders vollkommenes allerdings.«
»Du meinst, sie gleicht eher dem Porträt eines Künstlers, der sich beim Malen ziemlich große Freiheiten herausnimmt?«
»Ja, und ich bin eine dieser Freiheiten.«
Jonas musste an ein Bild von Pablo Picasso denken, auf dem ein Kopf gleichzeitig von vorn und von der Seite zu sehen war. Er hatte sich mit solchen verfremdeten Darstellungen der Wirklichkeit nie anfreunden können. Darina hatte fast die Gestalt einer erwachsenen Frau, aber ihre Körpermaße entsprachen denen einer Elfjährigen. Gerade wollte Jonas sich ein Herz nehmen und ihr gestehen, wie gut dem Kristall das »Porträt« seiner besten Freundin gelungen war, als eine knarrende Stimme ihn davon abhielt.
»Dir scheint es ja schon wieder sehr gut zu gehen, Jonas!«
Er hatte gar nicht bemerkt, wie hinter ihm die Tür aufgeschwungen war. Als er sich jetzt umwandte, erblickte er ein seltsames Bild wie aus einem Märchen: eine hutzelige, auf einen Stock gestützte Frau mit einem großen Raben auf ihrem Buckel.
»Kraark! Ich habe dich schon vermisst.«
»Und mich«, sagte Syrda im Scherz, »an mich hat wohl wieder niemand gedacht?«
Jonas begrüßte die beiden freudestrahlend.
»Fühlst du dich stark genug für einen kleinen Ausflug?«, fragte die weise Alte.
»Wenn’s nicht allzu weit ist. Eigentlich habe ich gestern schon mein Marschpensum für die nächsten drei Monate absolviert.«
»Hast du es ihm schon berichtet, Darina?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Er ist gerade erst aufgewacht, ehrenwerte Syrda. Und es gab einige Dinge zu besprechen, die wichtiger waren als…«
»Schon gut, schon gut«, unterbrach sie die alte Frau. »Du musst mir nichts erklären, mein Kind.«
»Worum geht’s denn?«, erkundigte sich
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