Das Echo der Flüsterer
Goldan mit einer Scheu, die Jonas an ihm noch nicht kannte.
Darina lächelte den Wächter warmherzig an. »Du möchtest uns endlich die Höhle zeigen, nicht wahr, Goldan?«
Jonas seufzte. Ob Mensch oder Bonka, dieses Mädchen schien jeden zu durchschauen.
Goldan führte sie nun einen schmalen Weg entlang, der bald in eine dreieckige Schlucht führte. Ein Blick zum Himmel verriet, dass die am Boden weit auseinander liegenden, sich nach oben hin aber immer mehr zusammenschiebenden Seitenwände in Wirklichkeit die Abhänge zweier Berge waren, deren Gipfel hier im Grund feststeckten. Jonas suchte seine Gedanken abzulenken, das Nachdenken über dieses Kopf stehende Gebirge bereitete ihm jedes Mal Magendrücken.
Bald gelangten sie an einen Tunneleingang. Zwei Bonkas standen davor und begrüßten die Ankömmlinge, indem sie sich auf die Brust klopften und sich verneigten. Goldan wechselte mit ihnen einige Worte, dann durfte er mit seinen Besuchern weitergehen.
Jonas sah zu dem bogenförmigen Durchgang empor. Ein Band von Steinornamenten in Form von Muscheln, Schneckenhäusern und allerlei Meerestieren verzierte das Tor.
Der Tunnel selbst war eher schlicht gehalten: links und rechts glatte, graue Wände, oben ein Tonnengewölbe und in regelmäßigen Abständen die nun schon vertrauten runden Leuchtkugeln, ohne die es hier stockfinster gewesen wäre. Nach etwa einer Viertelmeile änderte sich das Bild des Ganges. Die Wände waren nun rauer und immer häufiger schimmerten blaue Flächen aus dem Fels hervor.
»Gleich sind wir in der Höhle der Flüsterer«, sagte Darina.
Jonas hatte es aufgegeben, sich über sie zu wundern. Die Wissende bewegte sich so sicher, als sei sie hier zu Hause.
Kaum einhundert Schritte später gelangten sie an einen weiteren bogenförmigen Durchgang. Auch hier standen zwei Wächter. Auch diese waren – soweit Jonas erkennen konnte – unbewaffnet. Auch jetzt sprach Goldan nur kurz, worauf die kleinen Männer respektvoll zur Seite traten. Der Wächter von Laomar lächelte Jonas und Darina aufmunternd zu. Mit ausgestrecktem Arm lud er sie ein, die Höhle der Flüsterer zu betreten.
Als Jonas in den gigantischen Raum blickte, glaubte er in einen phantastischen Traum geraten zu sein. Die Höhle war gewaltig! Ihre Form konnte man auch nicht annähernd genau beschreiben. Nur einige Wege, Treppen und Stiegen, die hier und da in den blauen Stein getrieben waren, zeugten vom Wirken des Kleinen Volkes. Ansonsten erschien die Höhle unberührt – vorausgesetzt, man konnte sich hunderte von Bonkas, die hier zugange waren, wegdenken.
Seine bizarre Schönheit gewann dieser Ort durch unzählige Kristallflächen. Manche waren sehr klein, andere so groß wie Scheunentore. Es gab mehrere natürliche Galerien, die wie Theaterbalkone über weite Strecken an der Höhlenwand entlangführten. Auch auf dem Grund dieses kristallenen Doms gab es einiges zu entdecken: schlanke sechseckige Säulen, niedrige Glitzerpusteln, Spiegeltische und jede nur denkbare andere Kristallform. Der Glitzereffekt dieses »Gesamtkunstwerks« wirkte betäubend.
An den Wänden konnte Jonas zahlreiche Ausbuchtungen und Löcher erkennen. Bei manchen handelte es sich nur um flache Nischen, andere dagegen schienen Zugänge zu weiteren Tunneln in womöglich neue Gewölbe zu sein. Und überall standen die Flüsterer.
Der ganze Kristalldom war vom Klang ihrer Stimmen erfüllt. Jonas erinnerte sich an die Mangrovenwälder in der Whitewater Bay. Wenn der Wind durch die Wipfel der Junk Trees strich, hörte es sich genauso an.
Goldan führte seine Gäste nun näher an einige der Kristallflächen heran. Zu seinem Erstaunen konnte Jonas darin Bilder erkennen. Menschen aller Rassen, jeden Alters, aller sozialen Schichten und beiderlei Geschlechts gingen hier unter den Augen der Flüsterer ihren täglichen Verrichtungen nach. Manche waren sehr beschäftigt, andere schliefen, einige saßen nur da und schienen nachzudenken. Letztere beschäftigten die Flüsterer am meisten. Leise sprachen sie auf die Kristallbilder ein, die, wie Goldan anmerkte, Spiegel genannt wurden.
Jonas konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, er blicke in einen riesigen Kontrollraum, voll gestopft mit unzähligen Bildschirmen, die mit ihrem fahlblauen Licht ebenso ungezählte Gesichter beleuchteten. Er fühlte sich an ein Buch von George Orwell erinnert, das den seltsamen Titel 1984 trug. Er selbst hatte das Buch zwar nicht gelesen, aber Großvater hatte ihm davon
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