Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge
knisterte, während ich mehr und mehr davon herauspulte. Mit dem Schraubenzieher hebelte ich, mit der Zange versuchte ich es zu fassen. Wer immer es da hineingetan hatte, musste auf die Geschicklichkeit des Finders vertraut haben. Was aber, überlegte ich, wenn es nie gefunden worden, wenn nach Vollstreckung des Testaments beschlossen worden wäre, das Haus zu verkaufen, das Inventar zur Auktion freizugeben, wenn ein Möbelpacker den Lüster abmontiert und fortgebracht hätte, jemand ihn gekauft und erst daheim entdeckt hätte, dass ein Lämpchen nicht funktionierte. Vielleicht hätte derjenige die Fassung einfach ausgetauscht, die alte fortgeworfen und nie, niemals wäre das Stück Papier entdeckt worden.
Mein Kiefer tat weh, weil ich die Lampe noch im Mund hielt, Schweiß auf der Stirn, der Rücken schmerzte vom gebückten Stehen. Das Papier ragte schon ein ganzes Stück hervor, ich umklammerte es mit der Zange und zog vorsichtig – es löste sich mit einem Ruck. Die Lampe zwischen den Zähnen, atmete ich durch die Nase. Am liebsten hätte ich das Papier gleich hier oben entrollt. Ich zwang mich zu Geduld, stieg ab, lief in die Werkstatt, gönnte mir sogar den Nervenkitzel, das Werkzeug ordentlich zurückzulegen. Ich setzte mich auf Pascals Stuhl und entfaltete das Papier. Mein Liebling , stand da. Ich ließ den Schauder verklingen, der mich bei diesem Wort erfasste, beugte mich vor und las.
Mein Liebling,
wenn Du das liest, hast Du viel durchmachen müssen. Dafür bitte ich Dich um Verzeihung und kann es mir selbst nicht verzeihen. Ich habe in meinem Leben viele falsche Dinge getan. Dich zu lieben, mich mit Dir noch einmal ins Leben zu stürzen, war richtig. Unsere beiden letzten Jahre haben mir die Kraft gegeben, das Ganze durchzustehen.
Ich habe Dich nicht benutzt, wie sie Dir einreden werden. Die Wirtschaft habe ich benutzt, habe mich ihrer wie ein Taschenspieler bedient. Die Wirtschaft hat sich verändert, alles ist jetzt reglementiert: Was früher ein erlaubter Trick war, ist heute ein unerlaubter Trick. So kam ich in die Misere hinein, meine Nöte wurden so groß wie meine Gewinne, bis sich das eine mit dem anderen nicht mehr verbinden ließ. Du warst mein Rettungsfloß, Deine Liebe hat mich weitertreiben lassen, auf den Abgrund zu, der schließlich meine Rettung war.
Dass ich es Dir nicht erzählt habe, ist unverzeihlich, doch wie hättest Du den Druck, es zu wissen, aushalten sollen? Ich liebe Dich jetzt, da ich dies schreibe, ich werde Dich lieben, wenn Du es liest. Wie viel Zeit dann vergangen sein wird, kann ich nicht wissen. Durch mich ist niemand zu Schaden gekommen, keine Firma musste schließen, niemand verlor seine Arbeit. Ich habe Geld gemacht, indem ich zwei und zwei zusammenzählte, und es ergab fünf. Das nimmt man mir übel. In dieser Welt muss zwei und zwei immer vier ergeben.
Ich hätte Dir gern mehr von meiner Welt gezeigt. Eines Tages wird das wieder möglich sein. Dann ziehen wir zusammen hinaus, wir sollten Frankreich bereisen, Paris und den Süden. Unweit von Draguignan kenne ich ein Restaurant, dort werden wir Zwiebelsuppe essen. Es gibt keinen Fleck auf der Welt, wo sie bessere Zwiebelsuppe machen. Ich bin unerreichbar für Dich, das ist mein größter Kummer, bin ein Stück Papier in einem Lüster. Das ist wenig für einen Ehemann. Es wird nicht immer so sein, meine Geliebte. Ich stelle mir vor, wo und wann wir uns wiedersehen. Es ist warm dort. Ich liebe Dich. Verzeih, dass ich Dein Leben so kompliziert mache. Vergiss mich nicht!
Pascal
Wie am Ende eines langen Korridors kam ich mir vor, eine Tür führte ins Freie, die Luft war frisch, zugleich kalt. Dass Pascal seine Liebe in solche Worte fasste, war fremd und verwirrend für mich. Mit einem Mal war er wieder lebendig. Ich hätte mich dar über freuen, hätte erleichtert sein sollen – war ich es? Endlich durfte ich meine Zweifel abstreifen: Mein Mann lebte, er wollte mich wiedersehen. Machte mich die Neuigkeit glücklich?
Während ich den Zettel mit beiden Händen hielt, fiel mein Blick auf die Schublade, in der ich Robbies Bilder gefunden hatte. Mit seinem Brief hatte Pascal nicht alle Fragen beseitigt, im Gegenteil, sie wurden greifbarer, drängten sich auf. Wie konnte er seine Liebe beteuern und kein Wort über seinen Sohn verlieren? Pascal hatte mich in Rio im Stich gelassen, mir all seine Vergehen verschwiegen – wie durfte er behaupten, dass er mich liebte? Die hundertzwanzig Millionen fielen mir ein, eine
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