Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge
nach Nizza.«
»Was ist in Nizza?« Einen Moment sah es aus, als wollte er sein Notizbuch aus der Jacke ziehen.
»Ich will zum Flughafen, wo …« Ich schaute auf die Wanduhr. »Wo in sechzehn Stunden meine Tante landet.«
»Ihre Tant e !« Er sah mich an, als wäre ich endgültig übergeschnappt.
»Meine Tante Dora. Sie haben sie kennengelernt.«
»Warum, in Gottes Namen, haben Sie Ihre Tante herbestellt?«
»Sie leidet unter Arthritis, ich spendiere ihr einen Trip in die Wärme.«
»Tony, bitte!« Er glaubte mir natürlich nicht.
Wir saßen an einem Tisch mit heller Kunststoffplatte, Stein schlürfte Kaffee, draußen war finstere Nacht. Ich wollte ihm endlich offenbaren, was ich wusste, durfte den Mann, der sich meines Vertrauens würdig erwies, nicht länger im Dunkeln tappen lassen. Im Moment, als ich ansetzte, beugte er sich zu mir.
»Die Zuermatts haben ein Haus im Süden. In einem Dorf nahe Draguignan. Ist das Ihr eigentliches Ziel?«
Meine Augen mussten groß wie Teller geworden sein, so sehr überraschte er mich. Meine lächerliche Tarnung mit Dora war aufgeflogen, ich hatte Stein unterschätzt.
»Ja«, sagte ich schlicht. »Dort will ich hin. Der Ort heißt La Cébette.«
»Ich weiß.« Er trank den Becher leer. »Die französische Polizei hat bereits vor Tagen Leute dorthin geschickt.« Er machte eine Pause. »Ich muss Sie enttäuschen: Da ist niemand. Am allerwenigsten Pascal Zuermatt.«
Die Neuigkeit fühlte sich an, als ob man sich monatelang auf ein Weihnachtsgeschenk gefreut hat, und Heiligabend liegt es nicht unter dem Baum. »Niemand?«, fragte ich tonlos.
»Das Haus ist seit Monaten unbenutzt. Das haben die Nachbarn bestätigt.«
Ich dachte an Zwiebelsuppe. Zwei mal zwei gibt fünf, dachte ich, nicht vier. Pascal hatte mich ein weiteres Mal abgehängt. Südamerika, ging mir durch den Kopf. Er war von der Muränenhöhle irgendwohin aufgebrochen, ohne es mir zu verraten. Und sein geheimnisvoller Brief bedeutete nicht das Geringste.
Stein beobachtete mich. »Wie finden Sie jetzt Ihre Idee, Tante Dora nach Nizza kommen zu lassen?«
»Richtig«, antwortete ich. »Sie wird es genießen.«
Wie eine Seiltänzerin kam ich mir vor. Das Seil war dünn gewesen, aber ich hatte darauf laufen können. Jetzt hatte Stein es durchgeschnitten. Was geschah nun mit der Seiltänzerin? Ich zögerte einen letzten Moment, griff in mein Portemonnaie und holte den zerknitterten Zettel hervor. Ich entfaltete Pascals Brief und strich ihn auf der Tischplatte glatt. Stein beugte sich vor.
30
Die Provence wusste noch nichts vom Herbst. Es fühlte sich an, als hätte der Sommer vergessen, seinen Abschied zu nehmen, er war nur ein wenig müde geworden. Auch hier fielen die Blätter, aber nicht wegen der Kälte; sie waren verdorrt. Gras gab es kaum, die Macchie-Sträucher leuchteten in dunklem Grün. An Olivenhainen waren wir vorbeigekommen, auch an Weinbergen. Sie sahen anders aus als in der Mitte Frankreichs, weicher, verspielter. In dieser Landschaft hätte ich nicht aufhören mögen, zu schauen und jedes Ziel zu vergessen.
Ich hielt an. »Ist das nicht ein hübsches Dorf?« Stein war mit dem Motorrad an meine Seite gekommen, ich zeigte in die Hügel. »Wie wär’s mit Mittagessen?«
Nach unserem Gespräch in der Raststätte waren wir beide so müde gewesen, dass wir nicht weitergewollt und gleich im Motel übernachtet hatten. Morgens hatte er mir angeboten, mich den Rest der Strecke zu begleiten, von Nizza aus wollte er nach Hause fliegen.
»Eine Reise unter Polizeischutz?«, hatte ich gefragt und mich gleichzeitig auf seine Gesellschaft gefreut.
Noch in der Nacht waren wir die Möglichkeiten durchgegangen, wie Pascals Brief zu deuten sein könnte. Ich hatte Stein von meinem Treffen mit Jessica erzählt, auch von Irina, und dass sie es gewesen war, die mir den Namen La Cébette verraten hatte.
»Ist das die Antiquitätenhändlerin?«, hatte Ray gefragt.
»Sie arbeitet in einem Auktionshaus.«
»Was wissen Sie über diese Irina?«
»Sie und Pascal sind entfernt miteinander verwandt, wir kennen uns aus Toronto. Steht Irina auch unter Verdacht, mit Pascal unter einer Decke zu stecken?«
»Der Bekanntenkreis Ihres Mannes ist groß. Wir können die Untersuchung unmöglich auf alle Personen ausdehnen, mit denen er zu tun hatte.«
Wie sehr Ray und ich die Fakten auch umwälzten, wir fanden keine befriedigende Antwort. Sollten die Hinweise nichts bedeuten – Licht über Maria , Pascals Brief, Irinas Worte
Weitere Kostenlose Bücher