Das Echo der Schuld
hinter dem Schrank hervorgezogen, Unterwäsche, Strümpfe und Schuhe hineingelegt. Zuletzt hatte sie das neue Kleid vom Bügel gezogen und kurz überlegt, dass sie es besser in einem Kleidersack transportieren sollte, um es nicht zu zerknittern. Doch dann hatte sie gedacht, es sei einfacher, nur einen einzigen Koffer mit sich zu führen, und sicher konnte sie das Kleid in der Londoner Wohnung noch rasch bügeln. Sie breitete es auf dem Bett aus, faltete die Ärmel – und konnte plötzlich nicht weitermachen. Sie starrte auf das Kleid und wusste, sie würde es nicht schaffen, es in diesen Koffer zu packen. Es würde ihr nicht gelingen, in den Zug nach London zu steigen. Sie konnte einfach nicht als die perfekte Gattin eines aufstrebenden Politikers zu dieser Party gehen.
Als Nathan schließlich nach ihr sah, lag sie auf dem Bett, und Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie schluchzte nicht, es waren sehr stille Tränen, die jedoch unaufhörlich flossen.
»Ich kann nicht«, flüsterte sie, »ich kann nicht. Ich kann nicht.«
Undeutlich erinnerte sie sich jetzt, dass er sie hochgezogen und in die Arme genommen hatte. Es war schön gewesen, den Kopf an seine Schulter zu legen. Aber zugleich hatte sie heftiger zu weinen begonnen.
»Ich kann nicht«, hatte sie wiederholt, »ich kann nicht.«
Seine Stimme war dicht an ihrem Ohr gewesen. »Dann tu es nicht. Hörst du? Dann tu es nicht!«
Sie konnte nichts erwidern. Sie konnte nur weinen.
»Wo ist die wilde, starke Frau geblieben?«, fragte er leise. »Die Frau, die nichts tat, was sie nicht wollte?«
Sie weinte weiter. Es waren die Tränen von Jahren, die aus ihr herausströmten.
»Was möchtest du, Virginia? Wohin möchtest du gehen?«
Sie hatte darüber zuvor nicht nachgedacht. Es war nur plötzlich klar gewesen, wohin sie nicht gehen konnte. Nach London. In das Leben an Frederics Seite.
Sie hatte den Kopf gehoben. »Nach Skye«, sagte sie, »ich möchte nach Skye.«
»Okay«, sagte er ruhig, »dann lass uns aufbrechen.«
Vor lauter Erstaunen waren ihre Tränen versiegt. »Das geht doch nicht!«
»Und warum nicht?«, hatte er nur gefragt, und ihr war keine Antwort eingefallen.
»Für dich war es ja die perfekte Lösung aller Probleme«, sagte sie nun.
Noch immer war ihr nach Streit zumute. Daran mochten die Vorboten einer drohenden Migräne schuld sein und auch der Nebel, der wie eine Wand um sie herum waberte. Als wolle er in das Auto hineingekrochen kommen. »Ich meine, dass ich nicht nach London wollte.«
Er zuckte mit den Schultern. »Du lagst auf deinem Bett und weintest. Ich habe nichts dazu beigetragen.«
»Du hättest mir auch zureden können, mein Versprechen zu halten, das ich Frederic gegeben hatte.«
»He!« Er lachte leise. »Ich dachte, von dem Trip wärst du runter. Dass andere dir sagen, was du tun sollst. Du wolltest nach Skye, und nun fahren wir dorthin.«
»Gestern warst du dicht davor, von mir vor dem Krankenhaus, in dem Livia liegt, aus dem Auto gekippt zu werden. Du hättest nicht einmal gewusst, wo du die Nacht verbringen sollst.«
»Na ja, schlechter als jetzt hätte ich sie auch kaum verbracht.«
»Dann tut dir auch alles weh?«
»Klar. Ich bin außerdem ein ganzes Stück größer als du. Denkst du, für mich war es einfacher, meine Knochen zusammenzufalten?«
Urplötzlich verrauchte ihr Zorn.
»Ich müsste Kim anrufen«, sagte sie müde.
»Tu es.«
Sie betrachtete das Handy vor ihr auf der Ablage. Es war ausgeschaltet. Sie konnte sich denken, dass Frederic sie seit dem gestrigen Nachmittag, seit der Ankunft des Zuges in London, im Minutentakt zu erreichen suchte. Sicherlich hatte er auch schon mit den Walkers gesprochen und auch mit Kim. Ihre Tochter wusste also, dass ihre Mutter verschwunden war.
»Was soll ich Kim denn sagen? Dass ich mit dir nach Skye fahre?«
»Das würde ich nicht sagen«, meinte Nathan, »denn dann macht sich dein Mann auf den Weg. Es sei denn, du möchtest das?«
»Nein.« Fröstelnd hob sie die Schultern. »Nein. Frederic kann ich wahrscheinlich sowieso nie wieder unter die Augen treten.«
Ihr wurde schlecht, wenn sie sich vorstellte, was er gerade über sie denken mochte.
Sie erreichten tatsächlich die Autobahn Richtung Glasgow und kamen endlich schneller voran. Der Nebel lichtete sich langsam ein wenig.
»Heute Abend sind wir auf Skye«, meinte Nathan.
Er hatte versprochen, bei der nächsten Raststätte anzuhalten. Virginia, die sich verzehrte bei der Vorstellung, Kim könnte voller
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