Das Echo der Schuld
sie extrem sexualisiert. Partys, auf denen Joints oder reichlich mit Drogen versetzte Kekse herumgereicht worden waren, hatten häufig in sexuellen Orgien geendet. Virginia erinnerte sich dunkel an weit mehr als einen One-Night-Stand mit irgendeinem namenlosen Mann, der auf diese Weise zustande gekommen war. Sie war einfach gierig gewesen. Und alle Hemmungen hatten sich in Luft aufgelöst.
Nathan war vor ihr stehen geblieben, er hatte nach der schon etwas feuchten Abendluft gerochen, und auf seinem Gesicht lagen die ersten Schatten der Dunkelheit, und sie hatte gedacht: Das gibt es nicht, diesmal sind garantiert keine Drogen im Spiel!
Aber sie hätte ihn genau in dieser Sekunde haben wollen. Auf der Kühlerhaube des Wagens oder drinnen auf dem Rücksitz oder direkt auf dem sandigen Boden zu ihren Füßen. Es wäre ihr gleich gewesen. Wenn es nur sofort und schnell und wild gewesen wäre. Ohne ein Vorher oder Nachher. Einfach nur Sex.
Das darf doch nicht wahr sein! Ich bin so verrückt wie nach einem halben Dutzend Joints!
Sie meinte zu erkennen, dass er wusste, was in ihr vorging, denn er hatte auf seltsame Art gelächelt und sie abwartend angeschaut. Sein Blick sagte ihr, dass er bereit war, ihr jedoch allein die Entscheidung überließ. Und es erfüllte sie mit Bedauern, später mit Erleichterung, dass dann doch etwas anders gewesen war als früher. Ihre Hemmungen existierten noch, jedenfalls zum Teil. Ausreichend genug, sie rasch von der Kühlerhaube rutschen und mit kühler Stimme sagen zu lassen: »Wir sollten vielleicht noch ein Stück weiterfahren, ehe es richtig Nacht wird.«
»Okay«, hatte er leise zugestimmt.
Jetzt, an diesem nebligen Morgen, waren alle Gefühle dieser Art verschwunden. Virginia hätte heulen mögen. Sie empfand die Schmerzen in ihrem Nacken als unerträglich. Sie sehnte sich nach einer heißen Dusche, nach ihrer Zahnbürste, nach duftendem Shampoo in ihren Haaren, nach der warmen Luft und dem beruhigenden Brummen ihres Föns. Und dann, irgendwann, mehr als nach allem anderen nach einer Tasse heißen Kaffee.
Sie musterte Nathan von der Seite. Wenn ihm das verkrampfte Schlafen ebenfalls in den Knochen steckte, so merkte man ihm das zumindest nicht an. Er sah eigentlich nicht anders aus als am Abend zuvor. Nicht einmal müde. Er blickte konzentriert geradeaus, orientierte sich im dichten Nebel an dem Grasstreifen links des Straßenrandes. Dieses schmale, nasse Asphaltband, das sich durch die gottverlassene Heide- und Moorlandschaft schlängelte … Wo, zum Teufel, sollte sie hier einen Kaffee herbekommen?
»Ich brauche irgendetwas zum Essen und zum Trinken«, sagte sie schließlich. »Mir ist kalt, und mir tut jeder Knochen weh. Ich schwöre dir, dass ich nicht eine einzige Nacht mehr in diesem Auto schlafe!«
Er wandte den Blick nicht von der Straße. »Wir verlassen jetzt bald diese Landstraße und kommen auf eine Autobahn. Dort finden wir sicher eine Möglichkeit, etwas zu frühstücken.«
Sie wusste selbst nicht, weshalb sie so aggressiv war. »Ach? Und du kennst dich hier so toll aus, dass du das genau weißt?«
»Ich habe mir die Karte angesehen, ehe wir losfuhren.«
»Hoffentlich hast du sie richtig gelesen. Mir sieht es hier nämlich nicht nach Autobahn aus. Ich habe eher den Eindruck, wir landen demnächst in irgendeinem Sumpf oder auf einer Schafweide!«
Endlich wandte er den Kopf und sah sie an. »Du kannst ja richtig zickig sein«, sagte er, »was ist los mit dir?«
Sie rieb sich den Nacken. »Ich bin völlig verspannt. Mir tut alles weh. Wenn ich nicht bald einen Kaffee bekomme, werde ich schreckliche Kopfschmerzen haben.«
»Du kriegst bald einen Kaffee«, sagte er.
Sie presste beide Handflächen gegen die Schläfen. »Mir geht es nicht gut, Nathan. Ich weiß auf einmal nicht mehr, ob es richtig ist, was ich hier tue.«
»Wußtest du jemals, ob es richtig ist? Gestern hatte ich den Eindruck, es ginge für den Moment nur darum, dich in Sicherheit zu bringen. Dich zu retten. Du warst kurz vorm Durchdrehen.«
»Ja«, sie starrte aus dem Seitenfenster in den Nebel hinaus, »ja, das war ich wohl.«
Sie sah sich wieder auf ihrem Bett im Schlafzimmer liegen, daheim in Ferndale. Unter sich begraben das neue Kleid, das sie gerade hatte zusammenlegen und in den Koffer packen wollen. Sie hatte alles getan, was sie sich vorgenommen hatte: die Zugkarte gekauft, Frederic die Zeiten durchgegeben. Kims Sachen gepackt, die Kleine bei den Walkers abgeliefert. Ihren Koffer
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