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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Prozesse über Jahre hinziehen. Wie wollte er das denn durchhalten?«
    Sie hob ihren Blick, sah Frederic an.
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie, »ich weiß es wirklich nicht. Ich war sehr krank. Ich habe von den letzten Tagen überhaupt nichts mitbekommen. Ich weiß nicht, was geschehen ist in dieser Zeit. Ich weiß nicht, wo Nathan ist. Und ich weiß nicht, wo Ihre Frau ist. Ich schwöre Ihnen, ich habe keine Ahnung. Ich bitte Sie nur, mich nicht auf die Straße zu setzen. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.«
    Der Blick, den er ihr zuwarf, war nicht verächtlich, aber ein stummes Seufzen spiegelte sich in ihm wieder. Vor dem Gefühl, sich bis in den Staub erniedrigt zu haben, schloss sie sekundenlang die Augen.
    Aber wenigstens würde er sie nicht wegschicken.
     
     

 
     
     
     
     
     
     
    Zweiter Teil
     

Freitag, 1. September
     
    1
     
    Sie waren schon zwei Stunden gefahren, als sie merkte, wie hungrig sie war. Beim Aufwachen in den dunklen, kalten Morgenstunden hatte sie geglaubt, nie mehr wieder einen Bissen essen zu können. Jeder Knochen in ihrem Körper schmerzte. Ihr Hals war steif; als sie den Kopf zu bewegen versuchte, entfuhr ihr ein leiser Schmerzenslaut. Eine feuchte Kälte herrschte um sie herum, und trotz der Finsternis konnte sie erkennen, dass sich undurchdringlicher Nebel auf die Erde gesenkt hatte.
    Um im Auto zu übernachten, hatte sie gedacht, bin ich offenbar schon zu alt.
    Sie hatte die Tür aufgestoßen, hatte sich zu Boden gleiten lassen, sich mühsam aus Jeans und Slip geschält und einfach in das nasse Heidekraut unter ihren Füßen gepinkelt. Es war dunkel, und ohnehin war weit und breit kein Mensch. Sie befanden sich am Rand einer einsamen Landstraße, die sich durch den Norden Englands schlängelte, ein Stück bereits hinter Newcastle. Es konnte nicht mehr weit sein bis zur schottischen Grenze. Aber irgendwann am gestrigen Abend waren sie einfach zu erschöpft gewesen, um weiterzufahren. Virginia hätte sich gern ein Bed & Breakfast gesucht, um dort die Nacht zu verbringen, aber Nathan hatte gemeint, man könne genauso gut im Wagen schlafen. Sie vermutete, dass er es als peinlich empfunden hätte, auch die Übernachtung von ihr bezahlen zu lassen. Sie hatte an den Tankstellen bezahlt und war auch für das Abendessen aufgekommen, das sie in einem kleinen Gemischtwarenladen erstanden hatten, auf den sie in einem winzigen Dorf gestoßen waren. Sie hatten fast nicht zu hoffen gewagt, an einem Ort in der Mitte von Nirgendwo etwas Essbares zu finden, doch dann hatte es dort erstaunlich gute Sandwiches gegeben. Sie tranken Mineralwasser dazu, genossen die Stille und Einsamkeit um sich herum, die nur von ein paar sich neugierig nähernden Schafen gestört wurde. Es war deutlich kühler als in Norfolk. Virginia hatte einen dicken Pullover aus ihrem Koffer gekramt, sich auf die Kühlerhaube des Autos gesetzt, ihr Sandwich gekaut und ihren Blick über die Weite gleiten lassen, an deren Ende die geballten grauen Wolken mit den matten Farben dieser nordischen, bereits sehr herbstlich anmutenden Landschaft verschmolzen. Zu ihrem eigenen Erstaunen war sie von einem schon lange nicht mehr gekannten Gefühl des Friedens erfüllt gewesen, von einer sie bis in alle Winkel ihres Körpers und ihrer Seele durchströmenden Freiheit und Einheit mit sich selbst. Sie atmete tief die frische, klare Luft und empfand die Momente, in denen sich die Dunkelheit um sie herum auszubreiten begann, das Auflösen des Tageslichts in der Nacht, als magisch. Sie hatte früher manchmal Stunden wie diese gekannt, sie jedoch über all die Jahre inzwischen vergessen: Stunden, in denen sie aus der Zeit herausgelöst schien und nichts anderes war als ein Teil der Gegenwart, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Das Aufgehen im Jetzt. Sie erinnerte sich an die Erfahrungen, die sie in ihrer Studentenzeit mit dem Konsum von Haschisch gemacht hatte. Das Berückende war genau dieses Erleben gewesen, dieses Verschmelzen mit dem Augenblick. Nun gelang ihr das ohne Rauschmittel. Es reichten das seltsame, verhaltene Licht und der vollkommene Frieden um sie herum.
    Nathan hatte sie allein gelassen, war ein Stück gelaufen, um seine steifen Knochen zu bewegen. Als sie ihn eine Stunde später durch die Dämmerung wieder auf sich hatte zukommen sehen, war ihr schlagartig noch etwas anderes eingefallen, und schon hatte sich der Zauber gelöst. Ihr war eingefallen, welche Wirkung das Haschisch außerdem auf sie gehabt hatte: Es hatte

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