Das Echo der Schuld
Gelb getönten Blätter des dichten Buschwerks um den kleinen Spielplatz herum.
»Alles«, sagte er, »oder nichts. Wie man es nimmt. Nichts hat funktioniert.«
»Lag es an den Ideen? An der Umsetzung?« Sie überlegte, wollte etwas sagen, das ihm zeigte, wie sehr sie ihn verstand. Aber letztlich hatte sie keine Ahnung, wie ein Schriftsteller lebte und arbeitete und welche Probleme seinen Schaffensprozess begleiten konnten.
»Es lag wohl an der Umsetzung«, sagte er, »und dies wiederum hing mit dem Leben zusammen, das ich führte. Es war ein Leben, das ich als tödlich empfand – als eng, eingeschränkt, lähmend. Manchmal glaubte ich, keine Luft zu bekommen, dachte, ich müsste buchstäblich ersticken. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, starrte auf den Bildschirm meines Computers und fühlte nichts als Leere in mir. Es war gnadenlos. Es war entsetzlich.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Virginia. Sie konnte es wirklich verstehen. Zögernd streckte sie die Hand aus, berührte sacht seinen Arm.
»Was war so lähmend? Was hat dich erstickt?«
Er lehnte sich zurück. Plötzlich sah er müde aus und grau unter seiner Sonnenbräune. Grau wie der Himmel über ihnen, welk wie das Laub, das regennass und schwer an den Ästen hing. Sie hatte ihn immer stark und strahlend, sehr selbstbewusst und zuversichtlich erlebt. Auf einmal erblickte sie eine andere Seite. Die Seite, die gelitten hatte. Die Seite, die er offenbar perfekt zu verbergen gelernt hatte. Seine Verletzlichkeit rührte sie, und sie hätte ihm das gern gesagt, doch ein Instinkt hielt sie zurück. Sie ahnte, dass er derlei Worte von ihr nicht hören wollte.
»Wo soll ich anfangen?«, fragte er.
5
»Stell dir eine Kleinstadt in Deutschland vor. Die kleinste, spießigste, provinziellste Kleinstadt, die du dir ausmalen kannst. Jeder kennt jeden. Jedem ist es ganz wichtig, was die anderen von ihm denken. Man schaut ganz genau, wer den Gehsteig vor seinem Haus nicht ordentlich fegt oder seine Gardinen nicht regelmäßig wäscht. Oder die Büsche am Gartenzaun nicht ordentlich zurückschneidet! Zu weit herauswuchernde Zweige können dazu führen, dass eine Bürgerinitiative ins Leben gerufen wird.
Leider ist es nicht übertrieben, was ich erzähle.
Ich lernte Livia an der Uni kennen. Heute – ganz ehrlich – frage ich mich, weshalb ich mich in sie verliebt habe. Ich glaube, etwas an ihrer stillen, verschlossenen Art reizte mich. Ich witterte etwas dahinter, das ich gern entdecken wollte. Sehr spät erst merkte ich, dass da gar nichts war. Oder vielleicht war ich einfach nicht geeignet, es zu entdecken. Das mag natürlich sein.
Auf jeden Fall wurden wir ein Paar. Ich jobbte für die Hochschulzeitung, veröffentlichte regelmäßig Artikel. Die Idee zu einem großen Roman spukte aber bereits ständig in meinem Kopf herum. Meine Vorstellungen waren vage, noch schwer formulierbar. Aber ich wusste, da ist etwas, und es drängt hinaus. Ich fragte Livia, ob sie es sich vorstellen könnte, mit einem Schriftsteller verheiratet zu sein. Sie freute sich über den Heiratsantrag, der sich ja mit meiner Frage verband. Dass das Leben mit einem Schriftsteller schwierig sein könnte – darüber hat sie, glaube ich, in diesem Moment nicht so genau nachgedacht.
An den Wochenenden zog es mich regelmäßig ans Meer. Nicht, dass ich ein eigenes Boot gehabt hätte, aber die Eltern eines Kommilitonen besaßen eines, und wir durften damit segeln. Ich machte meinen Segelschein, entdeckte meine Leidenschaft für das Wasser. Die Weite der Meere stellte eine ungeheure Faszination für mich dar. Ich glaube, damals wurde der Gedanke geboren, irgendwann einmal zu einer Weltumsegelung aufzubrechen. Später natürlich, viel später. Livia war davon nicht sehr begeistert. Ich nahm sie ein paar Mal mit auf das Schiff, aber sie konnte sich nicht recht für das Segeln erwärmen. Livia hatte schon immer ziemliche Angst vor dem Wasser.
Alle paar Wochen besuchten wir ihre Eltern, meine künftigen Schwiegereltern. In jener entsetzlichen Kleinstadt. Ich fuhr nicht gern dorthin, aber da es nicht allzu häufig geschah, war es okay. Immerhin kochte Livias Mutter sehr gut. Sie war nett, aber total angepasst an das Leben dort und völlig unterwürfig ihrem Mann gegenüber. Der saß nach einem Schlaganfall, den er in relativ jungen Jahren erlitten hatte, im Rollstuhl, war rundum pflegebedürftig, hing eigentlich völlig von der Gnade seiner Frau ab und schaffte es trotzdem, sie von
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