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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Cunningham ihrer kleinen Rachel auch immer wieder erklärt. Sie war ein verständiges, vernünftiges Mädchen. Dennoch fand sie das, was der Fremde ihr anbot, so verlockend, dass sie alles vergaß, was sie gelernt hatte.«
    »Scheiße«, sagte Liz.
    »Ja«, stimmte Baker zu, »das kann man wohl sagen.« Er überlegte. »Gab es etwas, womit Ihre Tochter zu locken war? Wofür sie bereit gewesen wäre, mit jedem mitzugehen?«
    Der schwere Stein sank wieder auf Liz' Brust. Ihre Augen irrten unwillkürlich zu den Prospekten, die heißes spanisches Land unter strahlend blauem Himmel zeigten. Würde sie es dort vergessen können? Würde sie es je vergessen können?
    »Das Karussell«, sagte sie.
    Baker neigte sich vor. »Das Karussell?«
    »Ja. Das Karussell, das in New Hunstanton steht. Nur ein paar Schritte von der Bushaltestelle entfernt. Das hatte es ihr angetan.«
    »Ich kenne das Karussell. Ist sie öfter damit gefahren?«
    Liz nickte. »Eigentlich immer, wenn wir zum Baden nach Hunstanton fuhren. Sie fieberte förmlich darauf hin. Nur …« Sie stockte.
    »Ja?«, fragte Baker behutsam.
    »Es … es war immer so schwer, sie von dort loszueisen«, sagte Liz leise, »verstehen Sie, sie mochte dann nicht mehr aufhören. Sie schrie und heulte, wenn ich sagte, dass jetzt Schluss ist. Oft wehrte sie sich mit Händen und Füßen dagegen, wenn ich weiterwollte.«
    Er lächelte. »So sind sie nun mal. Das ist normal.«
    Liz schluckte. »Ich … ich hasste diese Auftritte. Und deshalb …«
    »Ja?«
    »An dem Tag, an dem … es geschah, ließ ich sie gar nicht erst mit dem Karussell fahren. Ich sagte gleich nein. Ich … ich …«
    »Was denn?«
    Die Tränen würgten sie im Hals. »Ich hatte einfach keine Lust, in der heißen Sonne zu stehen und diesem blöden Karussell zuzusehen«, sagte Liz verzweifelt. »Verstehen Sie, ich war einfach zu faul. Ich hatte keine Lust, mir hinterher ihr Geschrei anzuhören. Ich wollte schnell einen schönen Platz für uns suchen. Mich hinlegen. Meine Ruhe haben. Ich …« Sie konnte nicht weitersprechen. Sie wäre sonst in Tränen ausgebrochen.
    »Aber das ist doch verständlich«, sagte Superintendent Baker mit ruhiger Stimme. Er wirkte überzeugend. Voll Dankbarkeit registrierte Liz, dass er sie wohl nicht nur zu trösten versuchte, sondern dass er wirklich meinte, was er sagte.
    »Machen Sie sich nicht so verrückt«, bat er. »Jeder Vater, jede Mutter hat den Kindern schon Wünsche abgeschlagen. Und nur allzu häufig aus sogenannten egoistischen Gründen. Weil man gerade keine Lust hatte. Weil einem alles zu viel wurde. Weil man mit seinen Gedanken woanders war. Weil irgendetwas anderes wichtiger oder dringender war. Das ist doch in Ordnung. Wir werden doch nicht Eltern und geben damit gleichzeitig alles an der Garderobe ab, was uns zu ganz normalen Menschen macht. Unsere Bequemlichkeit, unseren Eigennutz, unsere kleinlichen Bedürfnisse. Unsere Unzulänglichkeit eben. Die bleibt uns. Das ist normal.«
    Sie atmete tief. Sie war nicht wirklich getröstet, aber es war, als lege sich ein erster feiner Balsamfilm über ihre wunde Seele. Sie konnte weitersprechen.
    »Sie war furchtbar enttäuscht. Sie weinte heftig, stemmte die Füße in den Boden, wollte nicht an dem Karussell vorbeigehen. Ich … zerrte sie vorwärts. Ich war so wütend auf sie! Wütend, dass … ich sie hatte mitnehmen müssen. Wütend, dass sie ...«
    »Dass sie …?«
    Liz schluckte. »Dass sie überhaupt da war«, sagte sie fast tonlos.
    Baker schwieg. Ganz kurz hatte Liz den Eindruck, dass er ihre Hand nehmen wollte, aber er tat es dann doch nicht. Sie saßen beieinander, aus dem Nebenzimmer dröhnte der Fernseher, der kleine Wecker auf Liz' Nachttisch tickte. Die Prospekte leuchteten in schrillem Blau und Gelb, plötzlich unpassend und aufdringlich. Es gab nichts weiter zu sagen, das wusste Liz. Die Menschen konnten mit ihr über das Karussell reden, ihre Versäumnisse relativieren und zurechtrücken. Aber niemand konnte ihr die Schuld nehmen, die sie auf sich geladen hatte, indem sie ihre Tochter zutiefst ablehnte. Indem sie sie nie, zu keinem Moment, als ein Geschenk, sondern immer nur als eine große Last begriffen hatte. Und irgendwie hing das alles zusammen. Liz hatte eine undeutliche Ahnung, dass sie sich wegen der ausgeschlagenen Karussellrundfahrt nicht so entsetzlich grämen würde, wäre sie ihrem Kind eine liebevolle und fürsorgliche Mutter gewesen. Das Karussell stand für alles, was zwischen ihr und Sarah

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