Das Echo der Schuld
Bekannten, meine Bürgerlichkeit. Ich wollte auf einem Schiff durch die Wellen pflügen, über mir nur den Himmel, rund um mich nur das Wasser, ich wollte die salzige Gischt auf meinen Lippen schmecken und die Schreie der Möwen hören. Ich wollte andere Länder sehen, andere Menschen treffen.
Ich wollte endlich keine Gewichte mehr an meinen Füßen spüren.
Ich wollte mein Buch schreiben.
Es ist tragisch ausgegangen, wie du weißt. Ich kam bis Skye. Dann sank mein Schiff und damit alles, was ich hatte. Ich bin dreiundvierzig Jahre alt und besitze nichts mehr. Absolut nichts. Und die ganze Zeit frage ich mich: Ist das nicht die wirkliche, die große Freiheit? Nichts mehr zu verlieren zu haben, an nichts mehr zu hängen? Ist es die Freiheit, von der ich zwölf Jahre lang geträumt habe?
Oder bin ich in Wahrheit abhängiger und unfreier als je zuvor? Ein Gestrandeter, ein Gescheiterter? Man kann schöne Worte finden, um meine Situation zu beschreiben, und man kann schreckliche Worte finden. Vielleicht treffen beide nicht die ganze Wahrheit. Vielleicht ist diese Wahrheit sehr schillernd, widersprüchlich und vielschichtig. An guten Tagen denke ich, dass ich ein beneidenswerter Mann bin. An schlechten Tagen wünsche ich mir, ich könnte endlich aus diesem Albtraum erwachen.
Aber da ist noch etwas. Ich sage es am Ende, aber es ist sehr wichtig. Es rückt alle Dinge in ein anderes Licht.
Als ich vor Skye unterging, bist du in mein Leben getreten. Ich musste alles verlieren, um dir zu begegnen. Das ist das wirklich Besondere an meiner Situation. Es macht aus einem Schiffsunglück ein Wunder.
Ich habe dir gesagt, dass es gute und schlechte Tage für mich gibt.
Seit dem letzten Wochenende glaube ich, dass die schlechten vorbei sind.«
6
Um Viertel vor vier begriff Janie, dass der nette Mann schon wieder nicht kommen würde. Sie hatte sich nicht mehr in das Schreibwarengeschäft hineingetraut, aber sie hatte rasch durch die Scheiben geblinzelt und gesehen, dass der Laden leer war. Nur der Inhaber hing gelangweilt hinter seiner Theke herum, blätterte in einer Zeitschrift und gähnte ohne Unterlass.
Dann hatte sich Janie auf der anderen Straßenseite postiert, wo sich ein Maklerbüro befand. Im Schaufenster hingen die Fotos verschiedener Häuser in der Gegend, und Janie tat so, als studiere sie angelegentlich, was dort geschrieben stand, und betrachte staunend die bunten Bilder. Aus den Augenwinkeln konnte sie die Tür zum Schreibwarenladen beobachten. Sie war um Viertel vor drei da gewesen, und bis um Viertel vor vier waren nur drei Menschen hineingegangen und nach ziemlich kurzer Zeit wieder herausgekommen. Eine alte Dame, die sich beim Gehen auf einen Stock stützte. Ein junges Mädchen mit schwarzen Haaren, in die sie gelbe Streifen eingefärbt hatte. Ein junger Mann in grauem Anzug mit roter Krawatte.
Das waren alle. Janies Freund war nicht dabei.
Es war zum Heulen. Er hatte es sich anders überlegt, ihn hatte ihre Unzuverlässigkeit geärgert. Vielleicht hatte er ein anderes kleines Mädchen kennen gelernt, dem er jetzt den Geburtstag ausrichtete. Einem, das nicht gleich bei der ersten Verabredung weggeblieben war.
Janie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war eine alte Uhr von Mum, sie hatte sie ihr im letzten Jahr zu Weihnachten geschenkt. Janie war stolz, sie zu besitzen.
Zehn nach vier. Sie konnte eigentlich nach Hause gehen.
Die Tür des Maklerbüros öffnete sich, und eine sehr elegante Dame im nachtblauen Hosenanzug schaute heraus.
»Na, junge Frau, möchten Sie ein Haus kaufen?«, fragte sie spöttisch. »Oder was ist so schrecklich interessant an unserem Schaufenster?«
Janie zuckte zusammen. »Ich … ich …«, stotterte sie, »ich finde die Bilder so schön.«
»Na ja, aber du schaust sie nun schon seit über einer Stunde an. Ich denke, langsam dürftest du sie auswendig kennen. Hast du kein Zuhause?«
Janie erschrak. Die Dame begann sich zu sehr für sie zu interessieren. Ob sie ihr ansah, dass sie gerade den Sportunterricht schwänzte?
Denn genau das tat Janie. Sie hätte sonst nicht rechtzeitig bei dem Schreibwarenladen sein können. Der Sportunterricht dauerte am Montag jetzt immer von drei bis fünf Uhr. Im letzten Schuljahr war das anders gewesen, da waren sie am Montag immer schon um halb drei fertig gewesen. Am Morgen hatte Janie gar nicht daran gedacht, dass sich das ändern könnte. Als der neue Stundenplan diktiert wurde, war sie blass geworden vor Entsetzen. Und hatte
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