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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Stadt wie ein Tiger durch seinen Käfig. Zehn Schritte in die eine Richtung, zehn Schritte in die andere. Ich wusste, dass mich alle Welt für einen Schmarotzer hielt, während Livia als Heilige galt. Wenn ich mich in das einzige Cafe am Platz setzte, um Notizen zu machen, wurde ich von fettleibigen Hausfrauen angestarrt, die mit einem Kopftuch über ihren Lockenwicklern zum Brotkaufen kamen. Wollte ich abends allein sein und im örtlichen Gasthof zu Abend essen, tagte dort gleichzeitig der Schützenverein oder der Mütterverein. Irgendjemand sprach mich todsicher darauf an, dass unser Gehsteig nicht sauber gefegt war oder dass irgendein blöder Busch aus unserem Garten zum Nachbarn wucherte. Es wurde feindselig registriert, dass ich weder am samstäglichen Männerstammtisch teilnahm noch mich breitschlagen ließ, bei Straßenfesten Würstchen zu grillen oder das Sackhüpfen der Schulkinder zu moderieren. Eigentlich tat ich niemandem etwas. Aber ich war ein Individualist, und das galt dort als schlimmstes Verbrechen. Irgendwann hätte ich am liebsten dieses alte, hässliche Haus meines Schwiegervaters nicht mehr verlassen. Aber dann musste ich ständig in seine böse Fresse schauen, und das war auch unerträglich. Es gab keinen Ort, an dem ich mich gut fühlte. An dem ich Frieden empfunden hätte.
    Es gab somit keinen Ort, an dem ich schreiben konnte.
    Natürlich spielte ich immer wieder mit dem Gedanken, einfach abzuhauen. Oder Livia ein Ultimatum zu stellen. Ihr zu sagen, dass sie sich bis zu irgendeinem Termin entscheiden solle zu gehen, dass ich andernfalls allein gehen würde. Aber es blieb bei den Überlegungen. Denn letztlich wusste ich genau, wie das ausgehen würde: Sie würde nicht mit mir kommen. Sie würde bei ihrem Vater bleiben, weil sie nicht in der Lage wäre, sich dem Gefühl der Verpflichtung zu entziehen. Und ich würde dann irgendwo allein sitzen und von den Bildern verfolgt werden. Wie sie von ihm schikaniert wurde. Wie sie sich abhetzte und abmühte und dennoch nie seine Zustimmung errang. Und mit vielen Verrichtungen auch kräftemäßig völlig überfordert war.
    Ob ich sie noch liebte, nachdem ein paar Jahre vergangen waren? Die Umstände bildeten nicht gerade einen guten Nährboden für das Gedeihen oder das Pflegen und Bewahren von Gefühlen. Ich war frustriert, oft wütend, hatte den Eindruck, geradewegs in eine Falle marschiert zu sein, aus der ich mich nicht mehr zu befreien vermochte. Es machte mich verrückt, kein eigenes Geld zu verdienen. Ich lebte von meinem Schwiegervater, was mir teilweise gerecht erschien, weil ich viele Arbeiten am Haus und im Garten verrichtete und auch zur Stelle war, wenn er zum Arzt gebracht werden musste oder eine Spazierfahrt unternehmen wollte. Aber es war nicht das Gleiche, als ginge ich einem Beruf nach und erhielte ein regelmäßiges Gehalt. Außerdem gab mir der Alte immer das Gefühl, mich auf seine Kosten durchzuschnorren.
    Irgendwie, unwillkürlich, gab ich Livia die Schuld an der Misere. Vom Verstand her war mir klar, dass sie da auch in etwas hineingerutscht war, was sie nicht gewollt hatte, aber immer wieder kam mir auch die Überlegung, dass ich in dem ganzen Schlamassel nicht stecken würde, hätte ich sie niemals kennen gelernt. Und da war der Schritt nicht weit hin zu dem Gedanken: Wäre ich ihr doch nur nie begegnet …
    Außerdem verlor ich immer mehr die Achtung vor ihr. Wer war sie? Eine immer grauer, dünner, blasser werdende, verhuschte Person, die sich von einem alten Mann tyrannisieren ließ. Ihre Unterwürfigkeit machte mich ganz rasend. Warum sagte sie ihrem Vater nicht einmal die Meinung? Brüllte ihn an? Machte ihm klar, wie jämmerlich er dran wäre, wenn sie sich plötzlich umdrehte und ginge?
    Aber der Typ ist sie nicht. War sie nie, wird sie nie sein.
    Und so saßen wir dort, und die Jahre vergingen, und schließlich, im letzten Jahr, lag der Alte eines Morgens tot in seinem Bett, und ich konnte es zunächst kaum fassen. Aber er war wirklich gegangen, und wir waren frei.
    Ich weiß, dass Livia keine Lust hatte, auf diese Weltumsegelung zu gehen. Und vielleicht war es von mir nicht richtig, sie deswegen unter Druck zu setzen. Aber, verdammt, ich musste eine Chance haben, mich ganz und gar von den Ketten zu befreien! Ich konnte nicht einfach das Haus verkaufen, in eine andere Stadt ziehen, die furchtbaren Jahre abhaken und von vorn durchstarten, als wäre nichts gewesen. Ich musste alles hinter mir lassen. Mein Land, meine

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