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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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morgens bis abends zu schikanieren und mit seinen bösen Launen und gehässigen Bemerkungen regelmäßig zum Weinen zu bringen. Er war unbeschreiblich geizig, obwohl er eine sehr gute Pension bekam. Beispielsweise durfte keine Putzfrau eingestellt werden, und seine gesundheitlich ebenfalls angeschlagene Frau musste das riesige, unpraktische Haus ganz allein in Ordnung halten. Im Winter froren wir alle, weil er verbot, die Heizungen ausreichend aufzudrehen. Er weigerte sich, Reparaturen an dem alten Kasten vornehmen zu lassen und zu bezahlen. Es zog wie verrückt durch die Fenster. Für ihn war das sicher auch ungemütlich, aber er hielt es aus, weil es ihn so tief befriedigte, uns leiden zu sehen. Meiner Meinung nach hasste er uns, weil wir nicht auch im Rollstuhl saßen. Wenn wir uns schon normal bewegen konnten, dann wollte er uns wenigstens das Leben schwer machen, wo er nur konnte.
    Ich beendete mein Studium, wir legten unseren Hochzeitstermin fest. Ich begann erste Notizen für meinen geplanten Roman zu machen. Nebenher jobbte ich hier und dort. Ich freute mich auf die Arbeit. Ein paar Figuren nahmen schon Gestalt an. Es drängte mich, anfangen zu können. Es war wie ein langer, langer Geburtsvorgang, den ich jedoch nicht als schmerzhaft, sondern als schön empfand.
    Dann passierte die Katastrophe.
    Knapp drei Wochen vor unserer Hochzeit starb Livias Mutter. Ohne jede Vorwarnung, von einer Minute auf die andere. Ein Herzinfarkt. Livias Vater rief an, um es uns mitzuteilen. Er erreichte mich, und selbst in diesem tragischen Moment hatte ich den Eindruck, dass es ihn mit einer gewissen Befriedigung erfüllte, dass sie zuerst gestorben war. Dass er, der Krüppel, nun länger durchhalten würde.
    Klar, dass Livia gleich zu ihm reiste und sich um ihn kümmerte, der Alte konnte ohne fremde Hilfe ja nicht mal auf die Toilette. Er konnte sich kein Spiegelei braten, und angeblich bekam er mit seinen verkrüppelten Händen auch nicht die Kühlschranktür auf, um sich einen Joghurt herauszuholen. Für die kleinste Kleinigkeit brauchte er eine Bedienstete. Livia war vom ersten Moment an praktisch rund um die Uhr im Einsatz.
    In den Wochen vor der Hochzeit sah ich sie nun gar nicht mehr. Ich reiste dann hinterher, wir heirateten standesamtlich mit zwei Nachbarn als Trauzeugen. Wir konnten danach nicht einmal essen gehen, weil Livia schnell wieder nach Hause zu dem bedauernswerten Pflegefall musste.
    Mir war klar, dass sie nicht Knall auf Fall mit mir wieder abreisen konnte, aber ich dachte doch, dass wir nun gemeinsam ein geeignetes Pflegeheim suchen, den Alten dorthin schaffen, das Haus verkaufen oder vermieten würden. Tatsächlich führte Livia auch einige Telefonate mit Heimen, ließ sich Prospekte zuschicken, sah sich eines der Häuser auch persönlich an … aber irgendwie ging alles nicht voran, sie blieb in der Planung stecken, und irgendwann vertraute sie mir an, dass sich ihr Vater weigere, sein Haus zu verlassen, dass er auch nicht von einer fremden Person betreut werden wolle und dass sie, Livia, es nicht fertigbrächte, ihn gegen seinen Willen zu etwas zu zwingen, wogegen er sich derart heftig sträube.
    Das war's, dann. Damit waren im Prinzip die Würfel gefallen. Ich kapierte, dass Livia bleiben würde, dass sie ihre Rolle im Grunde schon akzeptiert hatte. Eigentlich war sie wie ihre Mutter. Das Wort eines Mannes ist ihr Befehl. Seltsam, dass es so etwas heute noch gibt, nicht? Aber vielleicht ist es nicht einmal so selten.
    Ich wollte mich nicht gleich nach der Hochzeit von ihr trennen. Ich redete mir ein, es sei schließlich ganz gleich, wo ich meinen Roman schriebe. Und natürlich hatte ich vor, darauf hinzuwirken, dass wir letztlich doch eine andere Lösung finden würden. Länger als ein Jahr, dachte ich, sind wir keinesfalls hier.
    Es wurden zwölf Jahre. Zwölf Jahre, die vielleicht sehr schwer erklärbar sind. Es gab immer wieder Vorstöße in Richtung Heim. Es gab immer wieder Termine, die wir uns setzten. Es gab aber auch immer wieder Gründe, geplante Schritte nicht zu tun. Wir warten bis nach Weibnachten. Wir warten noch seinen nächsten Geburtstag ab. Lass ihn den Sommer noch hier verleben. Lass ihn nicht gerade im Herbst in ein Heim ziehen, da ist alles so grau. Verstehst du? Wir lebten zwölf Jahre lang in der Erwartung, dass er jetzt gleich umsiedeln würde. Ich glaube, wir merkten kaum, dass es mit jedem Jahr unwahrscheinlicher wurde, dass er es wirklich tat.
    Und ich lief durch diese kleine

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