Das Echo der Schuld
mochte ihn. Er hatte sie gut behandelt. Er war der erste Beamte, bei dem sie keine Verachtung gespürt hatte. Der erste, der ihr nichts vorwarf. Der erste, der nicht durchblicken ließ, was er von ihrem Verhalten als Mutter hielt: nämlich gar nichts.
»Ich melde mich«, versprach sie.
Sie folgte ihm durch den kurzen Flur zur Wohnungstür. Durch die geöffnete Wohnzimmertür konnte man Betsys aufgedunsenen Körper im Sessel sehen. Inzwischen plärrten die Teilnehmer irgendeiner Vormittagstalkshow ihre peinlichen Offenbarungen ins Publikum.
An der Tür drehte sich Baker um.
Er lächelte sie an. »Das mit Spanien«, sagte er, »also, das mit Spanien, das finde ich eine sehr gute Idee.«
4
Er hatte auf der ganzen Fahrt noch fast kein Wort gesprochen. Am Vorabend hatte sich die Stimmung wieder entspannt; sie hatten dann doch eine Konserve aufgemacht, Kerzen angezündet und Musik gehört. Aber sie hatten nicht mehr miteinander geschlafen. Beide waren sie nicht mehr in der Stimmung dazu gewesen.
Morgens waren sie schon um sechs Uhr aufgebrochen, nachdem sie jeder eine Tasse Tee getrunken, aber ansonsten vor lauter Müdigkeit nichts zu sich genommen hatten. Virginia hatte Nathans Schweigen auf die frühe Tageszeit geschoben, darauf, dass er noch unausgeschlafen und nicht ganz wach war. Aber dann fuhren sie Meile um Meile, erst durch die Dunkelheit, dann in den erwachenden Morgen hinein, der sich jedoch grau und wolkenverhangen präsentierte und ihnen nicht mit dem kleinsten Sonnenstrahl entgegenkam. Und Nathan sagte immer noch nichts. Sie musterte ihn von der Seite, sein gut geschnittenes Profil, und sie hätte weinen mögen bei dem Gedanken an das Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit, das sie noch vor wenigen Tagen erfüllt hatte, als sie die Fahrt in die umgekehrte Richtung antraten. Als die Landschaft immer weiter und offener und menschenleerer wurde und der Abstand zu Frederic immer größer. Jetzt fuhren sie in den dichter besiedelten Teil Englands hinein und wieder dorthin, wo die Probleme und Sorgen waren. Und noch dazu sprach er kein Wort. Bald würden sie die von Industriebauten durchsetzte Gegend um Leeds erreichen. Sie dachte an Dunvegan und an den vom Sturm leer gefegten, hohen, blauen Himmel vom Vortag und musste schlucken.
Wir bringen jetzt unsere Vergangenheit in Ordnung, dachte sie, und von da an wird alles besser werden.
Auf der Höhe von Carlisle hielt sie es nicht mehr aus.
»Nathan, was ist los? Du hast fast nichts gesprochen, seit wir losgefahren sind. Liegt es an mir? Hast du irgendein Problem mit mir?«
Er wandte ihr sein Gesicht zu. »Ich habe kein Problem mit dir«, sagte er.
»Was ist es dann? Du fährst ungern nach Norfolk zurück, das kann ich verstehen, aber …«
Er antwortete nicht sofort, erhöhte das Tempo des Wagens und steuerte gleich darauf auf einen Rastplatz, der bereits seit einer Weile immer wieder angekündigt worden war. Er hielt vor dem Gebäude, in dem man die Tankrechnung bezahlen und Kleinigkeiten kaufen konnte.
»Ich brauche einen Kaffee«, sagte er, nahm ein paar Münzen, die in der Ablage lagen, und stieg aus.
Fünf Minuten später erschien er mit zwei großen Deckelbechern aus Styropor. »Komm, wir setzen uns irgendwohin«, schlug er vor, und Virginia hatte plötzlich den Eindruck, dass er die Enge des Autos, das Eingesperrtsein nicht mehr ertrug.
Zum Glück regnete es nicht, und es war auch nicht allzu kalt. Sie setzten sich an einen Picknicktisch, der sich gleich neben einem kleinen Kinderspielplatz befand, und hielten ihre heißen Kaffeebecher umklammert.
»Ich habe nachgedacht«, sagte Nathan.
Virginia meinte für einen Moment, ihr Herz setze ein paar Schläge aus.
»Und?«, fragte sie beklommen.
Er sah sie an. Sein Blick war weich. »Es ist nicht einfach, dir meine Situation der letzten Jahre zu schildern«, sagte er, »aber wir haben einander Ehrlichkeit versprochen, und ich möchte die Dinge so formulieren, dass du wirklich begreifst, wie sie zusammenhängen.«
Sie atmete tief. Sie hatte geglaubt, er wolle die kaum begonnene Beziehung aufkündigen. Wegen Frederic. Wegen Livia.
Wegen all der unwägbaren Probleme, die auf sie zukommen würden.
»Es stimmt, nicht wahr?«, fragte sie. »Du hast noch nie ein Buch veröffentlicht?«
Er nickte. »Das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass ich seit Jahren schreibe. Dass ich jedenfalls zu schreiben versuche.«
»Was hat daran nicht funktioniert?«
Er starrte an ihr vorbei in die schon in erstem
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