Das Echo der Schuld
als sei sie unvermittelt in ein schreckliches Drama geraten, in dem sie die Hauptrolle spielte und das schlimmer war als alles, was sie sich je hätte vorstellen können.
Ein kühler Septembertag. Neun Uhr am Morgen. Draußen war Wind aufgekommen. Er ließ die Blätter in den Bäumen rauschen und verblies die Regenwolken vom Vortag. Virginia wusste, dass der Himmel immer weiter werdende Strecken von Blau zeigte. Nach dem Schmuddelwetter der letzten Tage würde heute wohl sogar noch die Sonne hervorkommen.
Es wunderte sie, dass sie diesen Umstand – die sich anbahnende Veränderung des Wetters – überhaupt wahrnahm und in einem seltsam eintönig ablaufenden Rhythmus sogar schon wiederholt reflektiert hatte.
Die Sonne wird scheinen. Es wird wärmer werden. Irgendwann ist alles wieder gut.
Unfassbar war es jedoch, einem Superintendent gegenüberzusitzen, der sich als Jeffrey Baker vorgestellt hatte und der ihr, einen Notizblock in der Hand, Fragen nach ihrer verschwundenen Tochter stellte.
Denn Kim war noch nicht wieder aufgetaucht.
Im Baumhaus war sie nicht gewesen, die erleichternde Situation der Nacht zuvor, als sie sie erschöpft, verfroren, verängstigt, aber lebendig dort gefunden hatten, hatte sich nicht wiederholt. Natürlich hatten sie es auch nicht wirklich erwartet. Der Weg von der Schule bis dorthin war weit, kaum vorstellbar, wie ein siebenjähriges Kind ihn hätte zurücklegen sollen.
Sie waren durch weitere Teile des Parks gestreift, aber es war immer dunkler geworden, und sie hatten keine Taschenlampen dabeigehabt. Irgendwann war Frederic, dem die Dornenranken zwei blutige Kratzer ins Gesicht geschnitten hatten, stehen geblieben.
»Das hat keinen Sinn, Virginia. Wir laufen hier ziellos herum, dabei wissen wir doch, dass sie so weit nicht gekommen sein kann. Lass uns zum Wagen zurückgehen und heimfahren.«
Als sie ihr vor Graces Haus geparktes Auto erreichten, fuhr soeben der Wagen von Jack Walker durch das große Parktor. Ein erschöpfter und ziemlich übernächtigt wirkender Jack stieg aus.
»Mrs. Quentin! Sir!«, rief er, und sein verwunderter Blick verriet Virginia, dass sie wohl beide nach ihrem Streifzug durch Dickicht und Unterholz recht abenteuerlich aussahen. »Ist irgendetwas passiert?«
»Kim ist verschwunden«, antwortete Frederic kurz.
»Verschwunden? Grace wollte sie doch von der Schule abholen. Sie hatte …«
»Sie war nicht in der Schule, als Grace dorthin kam«, unterbrach ihn Virginia.
»Jack, ich weiß, Sie haben eine lange Fahrt hinter sich und sind todmüde, aber würden Sie mich zur Schule begleiten?«, fragte Frederic. »Ich möchte das ganze Schulgelände und die Straßen ringsum absuchen. Sie hat sich gestern in ihrem Baumhaus versteckt, vielleicht tut sie heute etwas Ähnliches. Und vier Augen sehen mehr als zwei.«
»Klar, Sir. Ich bin dabei«, sagte Jack sofort.
Frederic wandte sich an Virginia. »Du gehst nach Hause und telefonierst alle ihre Klassenkameraden an. Und ihre Lehrer. Vielleicht ist sie mit jemandem mitgegangen und hat behauptet, wir wüssten davon. Und dann …«
»Was?«, fragte Virginia, als er stockte.
»Und dann versuche doch Kontakt mit Nathan Moor aufzunehmen. Vielleicht weiß er noch etwas.«
»Das geht nicht. Er hat kein Handy, und ich weiß nicht, wo er Unterkunft gefunden hat. Ich muss warten, bis er sich bei mir meldet.«
»Zweifellos wird er das irgendwann tun«, sagte Frederic kalt. Ohne dass er es mit einem einzigen Wort erwähnte, war klar, wem er die Schuld an Kims Verschwinden gab: ihrer Mutter und dem Umstand, dass sie dabei war, die Familie zu zerstören.
Während Frederic und Jack die Schule absuchten, den Hausmeister herausklingelten, sich alle Räume aufschließen ließen und sogar einen nahe gelegenen Park durchkämmten, telefonierte sich Virginia durch die ganze Liste der Telefonnummern von Kims Klassenkameraden. Überall erhielt sie die gleiche niederschmetternde Antwort: »Nein. Bei uns ist sie nicht.«
Sie ließ sich die Kinder an den Apparat holen, aber keines wusste etwas zu berichten, das ihr weiterhelfen konnte. Die interessanteste Information bekam sie von Kims bester Freundin, der kleinen Clarissa O'Sullivan: »Wir sind zusammen rausgegangen. Sie hat gesagt, dass sie abgeholt wird, und ist vor dem Tor stehen geblieben. Ich bin schnell weitergegangen, weil es so geregnet hat.«
Das klang nicht so, als habe Kim vorgehabt, sich zu verstecken oder wegzulaufen. Virginia sah ihre Tochter vor sich, wie sie im
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