Das Echo der Schuld
mitkommen wollen, aber er hatte abgewehrt. »Schone deine Kräfte. Außerdem ist es besser, wenn jemand am Telefon bleibt.«
Als Kind hatte Virginia immer zu heftigem Fieber geneigt, wenn sie krank war, und ähnlich wie jene Fiebernächte war auch die Nacht, die auf Kims Verschwinden folgte. Unwirklich. Voll innerem Aufruhr. Verzweifelt. Von seltsamen Bildern und Stimmen erfüllt.
Frederic kam zurück, nach Stunden. Allein.
Sie hatten Kaffee getrunken, hinausgestarrt in die Finsternis. Der Regen ließ nach gegen Morgen. Sie hörten, dass Wind aufkam. Er rauschte in den herbstlichen Bäumen. Schließlich sickerte erstes Tageslicht zwischen den hohen Wipfeln hindurch, bahnte sich einen schmalen Streifen in das Wohnzimmer und ließ Virginias und Frederics übermüdete Gesichter noch fahler erscheinen.
»Gegen neun wollte die Polizei da sein«, sagte Frederic.
»Ich koche noch mal Kaffee«, sagte Virginia. Sie hatte schon viel zuviel davon getrunken, aber sie hielt sich an der Wärme der gefüllten Tassen fest wie an einem allerletzten Strohhalm.
Und nun also war Superintendent Jeffrey Baker da, ein sympathischer, großer Mann, der Ruhe und Autorität ausstrahlte, und doch war es der Beginn des eigentlichen Entsetzens: plötzlich der Polizei gegenüberzusitzen und über ein Kind zu sprechen, das seit nunmehr sechzehn Stunden von niemandem mehr gesehen worden war. Virginia erzählte von Kims Verschwinden einen Tag zuvor, und Baker schien dies als ein beruhigendes Indiz zu werten.
»Manches spricht dafür, dass sich Ihre Tochter erneut verstecken wollte«, sagte er. Virginia blickte aus dem Fenster, sah ein paar kleine Fetzen Himmelsblau zwischen den Baumästen und dachte: Daran halte ich mich ja auch fest. An ihrem vorgestrigen Verschwinden. Wäre das nicht gewesen, ich würde wahnsinnig werden. Ich würde den Verstand verlieren.
Und dann lehnte sich Superintendent Baker vor, sah sie und Frederic an und sagte behutsam: »Ich leite die Ermittlungen in den Fällen Sarah Alby und Rachel Cunningham.«
Da begriff Virginia, welche Version in Wahrheit in Superintendent Bakers Kopf herumgeistern mochte.
Sie begann zu schreien.
2
»Es spricht wirklich vieles dafür, dass sich Ihre Tochter versteckt hat, nachdem genau das einen Abend vorher schon einmal passiert ist«, wiederholte Baker beruhigend. Er hatte eine Weile allein mit Frederic im Wohnzimmer gesessen, während Virginia nach oben gegangen war, ihre Tränen getrocknet und ihre Nase geputzt hatte. Es war nicht so, dass sie nicht selbst auch diesmal wieder an die beiden ermordeten Mädchen gedacht hatte, aber angesichts von Kims Flucht in ihr Baumhaus hatte sie diesen Gedanken nicht mehr wirklich zugelassen. Als Superintendent Baker die beiden Namen aussprach, war die Erkenntnis, dass auch dies nach wie vor eine echte Möglichkeit war, mit aller Macht über sie hereingebrochen, hatte sie verschlungen wie eine große Flutwelle und in eine Panik gestürzt, die namenlos und unendlich war. Frederic hatte sie in die Arme genommen und gehalten, und oben in ihrem Badezimmer hatte sie schließlich langsam ihre Fassung wiedergefunden. Rote, verschwollene Augen starrten ihr aus dem Spiegel entgegen, ein bleiches Gesicht, aufgesprungene Lippen.
»Das kann nicht sein«, murmelte sie beschwörend, »das kann einfach nicht sein.«
Als sie wieder unten saß, fühlte sie sich kalt und leer. Sie fror, ohne das Bedürfnis zu haben, etwas gegen das Frieren zu tun. Sie hatte zudem nicht den Eindruck, dass es irgendetwas gab, das sie dieser inneren Kälte hätte entgegensetzen können.
Baker sah sie aus freundlichen, einfühlsamen Augen an. Mrs. Quentin, während Sie oben waren, erzählte mir Ihr Mann, Ihre Tochter sollte von einem Bekannten abgeholt werden, der dann jedoch verhindert war. Ein Mr. …«, er warf einen Blick in seine Aufzeichnungen, »… ein Mr. Nathan Moor. Ein Deutscher.«
»Ja.«
»Ich würde ihn gern sprechen. Können Sie mir sagen, wie ich ihn erreiche?«
Sie kramte den Zettel mit seiner Anschrift aus ihrer Jeanstasche. »Hier. Das ist eine Pension in Hunstanton. Dort wohnt er zur Zeit.«
Baker schrieb sich Adresse und Telefonnummer ab und gab Virginia den Zettel zurück. »Äh … Mrs. Quentin, so ganz habe ich noch nicht begriffen, um wen es sich bei Nathan Moor genau handelt. Ihr Mann sagte … eine Art Zufallsbekanntschaft, die Sie in Ihrem Ferienhaus auf Skye machten? Mr. Moor hatte dort einen Schiffsunfall?«
»Er und seine Frau befanden
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