Das Echo der Schuld
strömenden Regen vor dem Schultor stand, die Kapuze ihres gelben Regenmantels ganz fest um den Kopf gezurrt. Ich werde abgeholt … Und dann war niemand gekommen. Mummie nicht, Daddy nicht, Nathan nicht. Und Grace mit einer Viertelstunde Verspätung.
Was war in dieser Viertelstunde geschehen?
Der Regen. Virginia strich sich über die müden Augen, in denen die Tränen brannten, die zu weinen sie sich jedoch nicht erlaubte. Der Regen mochte sie von der Straße weggetrieben haben. Aber doch höchstens bis ins Innere des Schulgebäudes. Und dort hatte Grace überall nachgesehen, wie sie immer wieder versichert hatte.
Warum meldete sich Nathan nicht?
Warum hatte sie ihr Handy ausgeschaltet?
Warum hatte sie ihr Kind schon wieder anderen überlassen?
Die Klassenlehrerin, die sie nach mehreren vergeblichen Versuchen erreichte, konnte ihr auch nicht weiterhelfen. Nein, ihr sei nichts Besonderes an Kim aufgefallen an diesem Tag. Ein bisschen müde habe sie gewirkt. Aber nicht verstört oder durcheinander. In den Pausen habe sie lebhaft mit den anderen Kindern gespielt. Virginia ließ sich die Nummern der anderen Lehrer geben und rief einen nach dem anderen an, aber sie erhielt keinerlei Hinweise. Alles heute schien ganz normal gewesen zu sein.
Der Lehrer, bei dem Kim in den letzten beiden Stunden Zeichenunterricht gehabt hatte, erinnerte sich, sie nach Schulschluß am Tor stehen gesehen zu haben.
»Mir war klar, dass sie darauf wartete, abgeholt zu werden«, sagte er. »Sie schaute die Straße hinauf und hinunter. Ich dachte noch: Kind, stell dich doch irgendwo unter! Es regnete ja ziemlich heftig. Aber sie trug solide Gummistiefel und einen langen Regenmantel. Ich saß schon im Auto und wurde angehupt, deshalb konnte ich nicht halten und ihr sagen, sie solle doch nach drinnen gehen. Ich nahm aber an, dass sowieso jeden Moment ihr Vater oder ihre Mutter auftauchen würden.«
»Sie haben … niemanden gesehen, der sie angesprochen hat?«, fragte Virginia. Vielleicht war ja doch Nathan erschienen.
»Nein«, sagte der Zeichenlehrer, »das habe ich nicht.«
Es war zum Verzweifeln. Kein Anhaltspunkt, nicht der geringste.
Sie ging in die Küche, um sich einen Tee zu machen, von dem sie hoffte, er werde ihre Nerven ein wenig beruhigen, aber dann fand sie das Teesieb nicht und war unfähig, sich zu erinnern, wohin sie es für gewöhnlich legte. In ihrem Kopf ging alles durcheinander. Draußen herrschte pechschwarze Nacht, und ihr Kind war nicht daheim, und sie hatte keine Ahnung, wo es sich aufhielt. Es war die Situation, die jede Mutter mehr fürchtete als alles andere auf der Welt und von der sie vom Tag der Geburt des Kindes an am inbrünstigsten hoffte, sie werde niemals eintreten.
Als ihr Handy läutete, stürzte sie ins Nebenzimmer, sehnlichst hoffend, der Anrufer sei Frederic, der ihr mitteilte, er habe Kim gefunden und werde nun gleich mit ihr nach Hause zurückkehren.
Aber es war nicht Frederic. Es war Nathan.
Er klang ein wenig gestresst. »Virginia? Kannst du mir sagen, weshalb du stundenlang nicht zu erreichen bist und …«
Sie unterbrach ihn. »Ist Kim bei dir?«
Er stutzte. »Nein. Wieso? Ich habe Grace angerufen und …«
»Grace kam zu spät zur Schule. Kim war nicht mehr da. Sie ist bis jetzt nicht aufgetaucht.« O Gott, dachte Virginia. Wieder zerschlug sich eine Hoffnung. Immer noch hatte sie sich an der Möglichkeit festgeklammert, Kim könne bei Nathan sein. Nun musste sie diesen Gedanken begraben.
»Sie hat sich bestimmt wieder irgendwo versteckt. Habt ihr schon in ihrem Baumhaus nachgesehen?«
»Natürlich. Da ist sie nicht!« Virginias Nervenanspannung entlud sich über Nathan. »Wieso warst du nicht da?«, fuhr sie ihn an. »Ich habe mich auf dich verlassen. Es ging um ein siebenjähriges Kind. Wie konntest du …«
»Moment mal, ich hatte Probleme mit dem Auto, und die hatte ich mir nicht ausgesucht. Also schieb mir jetzt nicht die Schuld für irgendetwas in die Schuhe!« Er klang aufgebracht. »Ich habe wieder und wieder versucht, dich zu erreichen, aber das war ja nicht möglich. Du hattest dich ja komplett verabschiedet. Schließlich habe ich über die Auskunft Graces Nummer herausgefunden, wobei ich mir zuerst das Hirn darüber zermartern musste, wie dein Verwalterpaar eigentlich mit Nachnamen heißt. Also, ich habe getan, was ich konnte, um die Situation zu retten.«
Virginias Wut fiel in sich zusammen, zurück blieben nur ihr Elend und ihre Angst.
»Entschuldige«, sagte sie,
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