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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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plötzlich ganz eng an. »Nein«, hörte sie sich sagen, »ich will dort nicht …«
    Mit ihrer freien Hand griff Doris über den Tisch und drückte Janies Hände. »Stella hat mich gebeten, dass wir dorthin gehen. Es kann sein, dass … dass es derselbe Mann war. Verstehst du? Sie wissen es nicht, aber es besteht die Möglichkeit, und … nun, manchmal, weißt du, kommen solche Leute dann dazu, wenn … ihre Opfer beerdigt werden. Sie schauen sich das gern an, weil sie sich dann besonders stark fühlen. Und …«
    »Nein! Ich will nicht! Ich will da nicht hin!«
    »Janie, du bist die Einzige, die ihn gesehen hat. Du würdest ihn erkennen, wenn er dort ist. Sieh mal, wahrscheinlich kommt er ja gar nicht. Und dann wirst du ihn nie wiedersehen. Aber wenn doch … Du willst doch auch, dass er eingesperrt wird, oder? Dass er niemandem mehr etwas antun kann!«
    Janie hörte, was ihre Mutter sagte. Aber die Stimme schien sich langsam von ihr zu entfernen, so als gehe Doris von einem Zimmer zum anderen, immer weiter weg, so dass ihre Stimme leiser und leiser wurde. Und gleichzeitig erhob sich ein Rauschen in Janies Ohren, und auf einmal schwankte auch der Boden unter ihr, und der Tisch mit allem, was darauf stand, drehte sich vor ihren Augen.
    »Ich will nicht«, sagte sie, aber jetzt konnte sie schon ihre eigene Stimme nicht mehr richtig hören, und vielleicht hatte sie auch gar nichts gesagt, sondern sich nur eingebildet, es getan zu haben. »Ich will nicht. Ich will nicht.«
    Dann wurde es dunkel.
     
    2
     
    Virginia stand vor dem Spiegel im Flur und betrachtete sich. Der alte Spiegel stammte aus Frederics Familie und hatte sich wahrscheinlich schon immer an dieser Stelle befunden. Das Glas, eingefasst von einem wunderschönen, kostbaren Goldrahmen, war jedoch nicht so geschliffen, wie es sein sollte: Jeder Betrachter konnte sich nur verzerrt wahrnehmen; dünner, als er eigentlich war, und seltsam in die Länge gezogen. Früher war Virginia manchmal, wenn sie sich zu dick fühlte, vor diesen Spiegel getreten und hatte sofort optisch etliche Kilos verloren. Jetzt, an diesem sonnigen Herbstmorgen, sah sie geradezu grotesk dünn aus, und zum ersten Mal ging ihr auf, dass sie in den vergangenen Tagen, aber wohl auch schon in den Wochen zuvor, stark abgenommen haben musste. Tatsächlich schlabberten auch ihre Kleider an ihr herum, was sie zuvor gar nicht richtig wahrgenommen hatte. In dem Spiegel wirkte sie wie eine verhungerte Vogelscheuche. Hohlwangig und mit tiefen Ringen unter den Augen. Sie trug ein ausgeschnittenes T-Shirt, und die Knochen an ihrem Dekollete stachen wie kleine Schaufeln hervor.
    Wann habe ich zuletzt geschlafen?, überlegte sie.
    Es schien eine Ewigkeit her zu sein.
    Sie kam nicht dazu, noch länger ihre eigene unattraktive Erscheinung zu mustern, denn plötzlich schrillte das Telefon. Sie schrak zusammen, stürzte ins Wohnzimmer und erreichte gleichzeitig mit Frederic den Apparat. Beide hatten sie den gleichen Gedanken: Vielleicht meldete sich der Erpresser ja wieder.
    Es war jedoch nur Superintendent Baker. Und obwohl Virginia glaubte, ihre Nerven müssten zerreißen, wenn sich der Mann, der vielleicht ihre kleine Kim entführt hatte, nicht endlich wieder rührte, zeigten ihre zitternden Hände zugleich, wie sehr sie gerade diesen Moment fürchtete. Sie hatte Angst vor der verzerrten Stimme, von der Frederic berichtet hatte. Angst vor dem Grauen, das diese in ihr auslösen würde.
    Frederic nahm das Gespräch an, schaltete jedoch den Lautsprecher ein.
    »Ich habe eine große Bitte an Sie«, sagte Baker. »Falls sich bis morgen früh nichts weiter ergeben hat – könnten Sie dann wohl an der Beerdigung der kleinen Rachel Cunningham teilnehmen?«
    »Rachel Cunningham?«, fragte Frederic. »Das ist das Mädchen, das …«
    »Das wir in Sandringham draußen gefunden haben, ja. Sie wird morgen beigesetzt. Es ist nicht völlig auszuschließen – wir haben das nicht selten erlebt –, dass sich ihr Mörder auf dem Friedhof herumtreiben wird.«
    »Aber wie können wir Ihnen da nützen?«
    Baker seufzte. »Es ist nur ein ganz kleiner Strohhalm. Aber vielleicht fällt Ihnen dort jemand auf, den Sie in der letzten Zeit einmal in der Nähe Ihrer Tochter gesehen oder erlebt haben.
    Jemand, an den Sie sich jetzt nicht erinnern, weil die Begegnung vielleicht so flüchtig und unauffällig war … Aber möglicherweise, wenn Sie ihn sehen …«
    Nun seufzte auch Frederic, tiefer als Baker zuvor und sehr

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