Das Echo der Schuld
hilfebedürftig hielten, sondern weil sie Angst hatten, sich von den stereotypen Trostphrasen einer im Grunde unbeteiligten professionellen Person noch stärker gequält zu fühlen.
Jetzt dachte Virginia: Ich brauche jemanden. Ich komme sonst nicht über den Tag.
Sie stand dicht vor einer Panikattacke, das spürte sie.
Kim. Kim. Kim. Vielleicht schrie sie in diesem Augenblick nach ihrer Mutter. War voller Angst, voller Hilflosigkeit. Einsam. Verlassen.
Virginias Atem ging lauter, keuchender, schien das ganze Badezimmer auszufüllen. Sie versuchte sich die Atemtechnik ins Gedächtnis zu rufen, die sie während ihrer Schwangerschaft zur Geburtsvorbereitung gelernt hatte. Tatsächlich bekam sie etwas leichter Luft, aber der Eindruck, jeden Moment den Verstand zu verlieren, wich nicht von ihr.
Immerhin schaffte sie es, bis ins Wohnzimmer hinunterzugelangen. Sie hatte die Hand schon am Telefonhörer, um Superintendent Baker anzurufen und um Hilfe zu bitten, da zögerte sie erneut.
Was sollte ein Therapeut ihr schon nutzen in dieser Situation? Wie sollte er ihre Panik abbauen?
Ihr Kind war verschwunden. Niemand konnte ihr einreden, es werde schon alles in Ordnung kommen. Sie mochte sich nichts darüber anhören, dass sie positiv denken und das Beste hoffen sollte, es konnte ihr nichts von der Angst nehmen, dass sich am Ende eben nicht alles in Wohlgefallen auflösen würde.
Ich muss etwas tun, dachte sie, ich muss etwas tun, sonst laufe ich gegen die Wand und schreie.
Superintendent Baker hatte gesagt, er wolle mit Nathan reden. Sie hatte sehr wohl begriffen, dass Nathan in den Augen der Polizei durchaus unter den Verdächtigen rangierte, genauer gesagt: Er war der einzige konkrete Verdächtige, den Superintendent Baker im Moment überhaupt zur Hand hatte.
Der nette neue Mann in Kims Leben.
Sie glaubte es nicht. Es schien unvorstellbar, und doch: Er hatte Kim abholen sollen. Er hatte etwas von einer Autopanne erzählt, die niemand überprüfen konnte. Er hatte damit den Eindruck erweckt – der den Tatsachen entsprechen mochte –, dass er in Hunstanton festgesessen und keine Möglichkeit gehabt hatte, nach King's Lynn zu fahren.
Und wenn er nicht festgesessen hatte?
Legte er ein seltsames Verhalten seit gestern an den Tag? Er meldete sich selten, fragte kaum nach Kim, schien guter Dinge zu sein.
Konnte es sein, dass er doch etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hatte?
Sie würde es nicht herausfinden, indem sie hier herumsaß. Vielleicht nicht einmal, indem sie mit ihm telefonierte.
Vielleicht nur, indem sie ihm in die Augen blickte.
Das Telefon konnte sie über eine Rufweiterleitung auf ihr Handy schalten, so dass sie erreichbar war – für den Entführer, für Superintendent Baker, für Frederic. Vor dem späten Nachmittag oder frühen Abend konnte Frederic nicht zurück sein.
Nun musste sie nur noch irgendwie an ein Auto kommen. Sie tippte die Rufumschaltung ein, nahm ihre Handtasche und verließ das Haus. Es war warm draußen. Wer hätte gedacht, dass es noch einmal so schön werden würde?
Zum Glück war Jack Walker daheim und auch gleich bereit, ihr sein Auto zu leihen. Sie bat ihn, die Auffahrt im Auge zu behalten und sie sofort anzurufen, sollte sich die Polizei oder sonst jemand blicken lassen, und wenige Minuten später lenkte sie bereits den Jeep mit dem ungewohnt dröhnenden Motor zum Parktor hinaus. Ihr Atem ging leichter.
Die namenlose Angst blieb.
3
Die Straßen waren leer, sie kam gut voran. Gegen zwölf Uhr erreichte sie Hunstanton, fragte einen Passanten nach dem Weg zu der Adresse, die Nathan ihr genannt hatte, und fand kurz darauf ohne Schwierigkeiten die kleine Pension. Auf den ersten Blick sah sie, dass Nathans Auto – oder besser: ihr Auto – noch immer nicht wieder vor dem Haus parkte. Sie seufzte enttäuscht, denn sie hatte gehofft, er sei inzwischen da. Aber vielleicht kehrte er nun jeden Moment wieder zurück.
Die Wirtin jätete Unkraut im Vorgarten und antwortete auf Virginias Frage: Nein, sie habe keine Ahnung, wohin Mr. Moor gegangen sei und wann er wiederkomme.
»Bestimmt wird er jetzt irgendwo zu Mittag essen«, fügte sie hinzu, »denn außer dem Frühstück serviere ich hier keine Mahlzeiten.«
Das hätte mir eigentlich klar sein müssen, dachte Virginia. Sie fühlte sich erschöpft, leer und auf einmal ziemlich mutlos.
»Kann ich hier auf ihn warten?«, fragte sie.
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie mögen … Gehen Sie ins Haus,
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