Das Echo der Schuld
mit der Auflage, einen Schlafsack mitzubringen. Erst am Sonntag sollte alles mittags mit einem großen Pizzaessen enden.
Die Mütter, die gerade ihre Kinder ablieferten, sprachen über das Verbrechen an der kleinen Sarah Alby, das die ganze Gegend erschüttert hatte. Eine der Frauen kannte jemanden, der Sarahs Mutter kannte, »flüchtig«, wie sie betonte.
»Ziemlich asoziale Menschen«, berichtete sie, »der Vater ein arbeitsloser Herumtreiber, der sich überhaupt nicht um sein Kind gekümmert hat. Die Mutter sehr jung und vergnügungssüchtig und ebenfalls nicht an der Kleinen interessiert. Und dann soll es noch eine Großmutter geben, die wohl den Vogel abschießt. Völlig verkommen.«
»Entsetzlich«, sagte eine andere Frau, »und ich habe ja auch gehört, dass die Mutter ihr Kind ziemlich lange am Strand allein gelassen hat. Sie versuchte, an irgendeiner Imbissbude Männerbekanntschaften zu schließen. Wenn ich mir das vorstelle … ein vierjähriges Kind!«
Alle waren sich einig in ihrer Entrüstung. Virginia, die sich wie immer in solchen Situationen sehr zurückhielt, konnte es zwar ebenfalls nicht nachvollziehen, dass man sein Kind unbeaufsichtigt am Strand ließ, aber irgendwie stieß sie die Selbstgerechtigkeit der anderen ab. Sie alle waren Angehörige der besseren Gesellschaftsschicht, ordentlich verheiratet oder zumindest ordentlich geschieden, in jedem Fall vom Vater ihrer Kinder unterstützt und unterhalten. Ihre Schwangerschaften waren ihnen nicht zugestoßen wie eine schreckliche Krankheit, sondern waren gewollt gewesen. Vielleicht hatte Sarah Albys junge Mutter mit Problemen, Ängsten und zerstörten Hoffnungen zu kämpfen gehabt, die sich diese Frauen nicht einmal im Traum vorstellen konnten.
»Ach, Mrs. Quentin«, sagte nun eine von ihnen, als würde sie sich eben erst Virginias Anwesenheit bewusst, »ich habe ein Interview mit Ihrem Mann in der Times gelesen. Er strebt einen Sitz im Unterhaus an?«
Alle wandten sich Virginia zu. Sie hasste es, angestarrt zu werden.
»Ja«, sagte sie nur.
»Das wird ja dann auch für Sie eine anstrengende Zeit«, meinte eine andere, »so etwas involviert ja doch immer die ganze Familie.«
Virginia kam sich vor wie ein in die Enge getriebenes Tier.
»Ich lasse das auf mich zukommen«, entgegnete sie.
»Ich bin froh, dass mein Mann keinerlei Ambitionen in dieser Richtung hegt«, sagte eine der Mütter, »mir ist mein ruhiges Familienleben heilig.«
»Ihr Mann ist auch nicht Besitzer einer Privatbank. Und hat keinen Landsitz!«
»Das hat doch damit nichts zu tun!«
»Aber, meine Liebe, natürlich hat es das! Je höher das politische Amt, das jemand anstrebt, desto wichtiger sind Geld und gute Beziehungen.«
»Sind Geld und gute Beziehungen nicht immer wichtig? Ich finde, dass …«
Virginia hatte das Gefühl, das allgemeine Stimmengewirr schlage über ihr zusammen und ersticke sie. Sie fand es plötzlich schwierig, Luft zu holen. Wie so häufig empfand sie die Menschen um sich herum als zu dicht an sie herangerückt.
»Ich muss gehen«, sagte sie hastig, »ich habe noch Gäste heute Abend und eine Menge vorzubereiten.«
Sie verabschiedete sich von Kim, die aber schon so intensiv mit den anderen Kindern beschäftigt war, dass sie ihrer Mutter nur noch flüchtig zuwinkte. Während Virginia den Garten verließ, hatte sie das sichere Gefühl, dass alle hinter ihr herblickten und dass man, kaum dass sie außer Hörweite war, über sie zu tuscheln begann. Ihr Aufbruch war fast panisch gewesen, das hatten die anderen spüren können. Sie hatte nicht wie eine Frau gewirkt, die es eilig hat, sondern wie eine, die eine Panikattacke nahen sieht.
Mist, dachte sie draußen, als sie ihr Auto erreicht hatte und sich für eine Sekunde gegen das heiße Blechdach lehnte, warum kann ich es nur so schlecht verbergen?
Während sie losfuhr, überlegte sie, was genau sie eigentlich mit es meinte. Was konnte sie nur so schlecht verbergen?
Es trat jedenfalls nur in der Gesellschaft anderer Menschen auf, speziell in Situationen, in denen sie plötzlich Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit war und in denen Fragen, die man ihr stellte, Kommentare, die man zu ihr oder ihrer Situation abgab, auf einmal eine gewisse Eindringlichkeit und Intensität annahmen. Dann gelang es ihr nicht, von sich aus einen inneren Abstand herzustellen. Dann wurde ihre Atmung hektisch, und ihr Hals schien sich zu verengen. Dann konnte sie nur noch an Flucht denken, an nichts
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