Das Echo der Schuld
anderes.
Fantastisch, dachte sie, als Begleiterin für die politische Karriere eines Mannes eigne ich mich wirklich hervorragend. Panikattacken sind genau das, was man dabei am besten brauchen kann.
Als sie in das Tor zu Ferndale House einbog, konnte sie leichter atmen. Es war wieder ihre eigene Welt, in die sie zurückkehrte, das abgeschiedene Haus, der weitläufige Park, weit und breit kein Mensch als das Verwalterehepaar, das aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung eine ausreichende Distanz hielt. Wenn sie hier war, zusammen mit Kim, spürte sie so wenig von irgendeiner Panik, dass sie das Problem völlig vergessen konnte. Dann war sie jung und lebendig, eine Frau, die schon am frühen Morgen wach und fit war und durch den Wald joggte, die ihr Kind versorgte und ihr Haus in Ordnung hielt und muntere, fröhliche Gespräche mit ihrem häufig abwesenden Mann über das Telefon führte. Dann war alles in Ordnung.
Sie durfte nur nicht darüber nachdenken, ob es das Leben war, das eine sechsunddreißigjährige Frau führen sollte.
Und das wollte sie nun auch ganz sicher nicht: über ihr Leben nachdenken.
Sie hielt vor dem Haus, stieg aus und genoss nach dem kalten Luftstrom der Klimaanlage die weiche Wärme des Spätsommerabends. Sie würde es sich gemütlich machen, noch ein wenig die samtige Luft genießen. Es war kurz nach sechs, nicht zu früh für einen Drink. Sie beschloss, sich irgendetwas zu mixen, etwas Farbenfrohes, Süßes mit viel Eis, und sich dann auf die Terrasse hinter der Küche zu setzen, eine Zeitung zu lesen und den Tag ausklingen zu lassen. So abgöttisch sie Kim liebte, es war mitunter auch ganz schön ohne ihr ständiges Geplappere und ohne die vielen Fragen, die sie immerzu stellte. Es war ein Abend, der ihr ganz allein gehörte. Es mochte Menschen geben, die ihn als einsam empfunden hätten, aber dazu gehörte sie nicht.
Sie empfand einfach nur Frieden.
Als sie in der Küche stand und etwas Blue Curacao mit Zitronensaft in einem Glas mischte, schaltete sie gewohnheitsmäßig den kleinen Fernseher an, der auf der Anrichte stand. Es lief eine Sendung über Eltern, die ein Kind verloren hatten, und Virginia wollte schon weiterschalten, um sich nicht ein so trauriges Thema anhören zu müssen, da vernahm sie den Namen Sarah Alby und hielt inne. Es war der Name, der seit Tagen durch die Presse geisterte, der Name des ermordeten vierjährigen Kindes.
Wie sich herausstellte, war Liz Alby, Sarahs Mutter, Gast in der Sendung. Virginia sah eine sehr junge Frau, fast ein junges Mädchen noch, sehr attraktiv, sehr verstört. Zugleich vermittelte sie den Anschein, als begreife sie noch gar nicht genau, was eigentlich geschehen war. Zweifellos war sie nicht in dem Zustand, in dem sie vor eine Fernsehkamera hätte gezerrt werden sollen, aber offenbar hatte es in ihrer näheren Umgebung niemanden gegeben, der sich verpflichtet gefühlt hätte, ihren Auftritt zu verhindern. Der Moderator fragte sie in einer ausgesprochen indiskreten Weise aus, wobei er nur scheinbar Rücksicht auf ihren Schockzustand nahm, in Wahrheit jedoch gerade ihre daraus resultierende Hilflosigkeit nutzte, intimste Gefühle und Gedanken zu erfragen. Liz Alby gab bereitwillig Auskunft, nicht im Geringsten erkennend, wie gnadenlos sie vorgeführt wurde.
»Ist es nicht so, dass man nun jede Auseinandersetzung bereut, die man je mit seinem Kind hatte?«, fragte der Moderator. »Und wir alle haben Streit mit unseren Kindern hin und wieder, nicht? Drängen sich Ihnen nicht Bilder auf – Ihre kleine Sarah, wie sie weint, weil Mama böse ist und schimpft? Oder keine Zeit für sie hat?«
Es war deutlich zu sehen, dass diese Fragen Liz Alby wie Messerstiche trafen.
»Das kann er doch nicht machen!«, rief Virginia vor ihrem Fernseher.
»Ich muss immer an das Karussell denken«, sagte Liz leise.
Der Moderator sah sie mitfühlend und zugleich aufmunternd an. »Erzählen Sie uns davon, Liz«, bat er.
»An dem Tag, an dem … an dem Sarah verschwand«, begann Liz stockend, »wir waren ja in Hunstanton. Am Strand.«
»Wir alle wissen das«, sagte der Moderator sanft, »und jeder der Zuschauer wird sich denken können, wie viele Male Sie es schon bereut haben, dort hingefahren zu sein.«
»Es gibt dort ein Karussell«, fuhr Liz fort, »und meine … meine Tochter bettelte, damit fahren zu dürfen. Sie … weinte, als ich nein sagte.«
»Sie sagten nein, weil Sie meinten, keine Zeit zu haben? Oder weil es zu teuer war? Oder
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