Das Echo der Schuld
in den Mund genommen. Das war eine Steilvorlage. Jetzt sag es ihm! Sag ihm, dass er hier nicht ewig bleiben kann. Dass er endlich seine Heimreise organisieren muss. Dass es so nicht geht – hier einzuziehen, sich in deinem Haus zu bewegen, als sei es sein eigenes, keinerlei Angaben zu seinen weiteren Plänen zu machen. Mach ihm klar, dass …
Er unterbrach ihre Gedanken, noch ehe es ihr gelungen war, die in ihrem Verstand fertig formulierten Sätze auszusprechen.
»Wissen Sie, worüber ich seit gestern Abend nachdenke?«, fragte er. »Ich überlege immerzu, was damals geschehen ist. Denn irgendetwas muss geschehen sein, nicht wahr? Weshalb konnten Sie Michael, den ewigen Jammerlappen, nicht verlassen? Warum hielten Sie Ihre Beziehung zu Andrew Stewart geheim? Und warum … sind Sie heute mit Frederic Quentin verheiratet? Und nicht mit Andrew Stewart?«
2
Michael
Etwa sechs Wochen nach ihrer ersten Begegnung erfuhr Virginia, dass Andrew Stewart verheiratet war.
Es war Dezember, kurz vor Weihnachten, und er hatte sie eingeladen, mit ihm über ein verlängertes Wochenende in das Ferienhaus eines Freundes in Northumberland zu fahren. Virginia hatte sich für dieses Wochenende eigentlich vorgenommen, ein langes und ernstes Gespräch mit Michael zu führen, ihm von Andrew und ihrer Beziehung zu erzählen, um sein Verständnis zu bitten und sich dann offiziell von ihm zu trennen. Sie hatte diese Aussprache wochenlang vor sich hergeschoben; sie lag ihr schwer im Magen, und als Andrew von der gemeinsamen Reise sprach, war sie froh, erneut einen Aufschub gewonnen zu haben.
Sie erzählte Michael etwas von einem Wellness-Wochenende, das sie gemeinsam mit einer Freundin geplant habe, und als er wissen wollte, um welche Freundin es sich handelte, behauptete sie, es gehe um ein Mädchen aus ihrer wilden Londoner Zeit, das er nicht kenne. Sie kam sich ziemlich schäbig vor und schwor sich, dieses Lügenspiel nicht länger zu spielen.
Michael hatte ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, und zudem wollte sie sich endlich in aller Offenheit zu Andrew bekennen.
Northumberland sah in jenem Winter kaum Schnee, dafür Regen und Nebel ohne Ende. Die Welt schien aus kalter, klammer Feuchtigkeit zu bestehen. Das Haus lag sehr einsam, und schon auf dem Weg dorthin blieben sie mit Andrews Auto in einem Schlammloch stecken und mussten im strömenden Regen das Hinterrad mit bloßen Händen freischaufeln, was ihnen erst weit nach Einbruch der Dunkelheit schließlich glückte. Sie waren beide fast erfroren und langten mit nicht einem einzigen trockenen Faden mehr am Körper in dem alten Haus an. Dort empfing sie feuchte, abgestandene Luft und wiederum eisige Kälte. Andrews Freunde waren vergangene Ostern dort gewesen, den Sommer und Herbst über hatte das Haus leer gestanden, und niemand hatte sich in der Zwischenzeit gekümmert.
»Vielleicht war es doch keine so gute Idee, hierher zu kommen«, meinte Andrew, als er feststellte, dass er erst Holz würde hacken müssen, um den einzigen Kamin anzuheizen, während Virginia zitternd und zähneklappernd auf eines der Sofas sank, beide Arme eng um sich schlang und für den Moment offensichtlich zu keiner vernünftigen Handlung mehr in der Lage war.
»Dddoch … es … wwwar eine wun … wunderbare Idee«, erwiderte sie und nieste.
Zum Glück hatte Andrew mehr Energie als sie, und irgendwann am späteren Abend brannte ein warmes Feuer, ein paar Schnäpse wärmten von innen, und Virginia kochte in der herrlich altmodischen Küche einen riesigen Topf Tomatensuppe, von der sie sich in den nächsten beiden Tagen ernährten. Virginia hatte sich bei der Autopanne im Regen leicht erkältet und war während des gesamten Aufenthalts damit beschäftigt, diese Erkältung in Schach zu halten; sie trug ständig einen kratzigen Wollschal um den Hals und lutschte Eukalyptusbonbons, aber auch diese Umstände konnten ihr tiefes Glücksgefühl nicht trüben. In Gummistiefeln und dicken Regenjacken unternahmen sie lange Wanderungen über die nebligen Hochmoore und durch die nassen Täler. Stundenlang begegneten sie keinem einzigen Menschen, nur hin und wieder ein paar Schafen, die mit zotteligem, triefend nassem Fell einsam über ihr Weideland streiften. Virginia, die die Metropole London gewöhnt war und das quirlige Studentenleben von Cambridge, hätte nie geglaubt, dass sie sich im kargen, menschenleeren Norden Englands so wohl fühlen könnte. Nirgends war ein Ort erreichbar, an dem sie
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