Das Echo der Schuld
einfach irgendwelchen Vergnügungen hätten nachgehen können. Das nächste Dorf lag sechs Meilen entfernt. In einem kleinen Gemischtwarenladen dort kauften sie Brot und Butter ein, und einmal gingen sie abends in das einzige Pub am Ort. Sie tranken dunkles Bier, lauschten den paar wenigen anwesenden alten Männern, die wild politisierten und stritten, und fuhren dann Hand in Hand und voller Zufriedenheit zu ihrem Häuschen zurück.
Virginia vermisste nichts – keine Partys, keine neuen, aufregenden Menschen, weder Glitzer noch Glamour. Es ging nur um das Zusammensein mit Andrew, in langen, dunklen Dezembernächten voller Zärtlichkeit und an kurzen, verregneten Tagen, die verzaubert schienen.
Einmal dachte sie an Michael an ihrem letzten Morgen in Northumberland. Sie saß im Schlafanzug vor dem Kamin im Wohnzimmer und trank einen Becher Kaffee, während jenseits des Fensters endlich ein paar Schneeflocken fielen. Aus dem Radio erklang Weihnachtsmusik. Andrew lag, ebenfalls noch im Schlafanzug, auf dem Sofa und bemerkte plötzlich, dass sie minutenlang abwesend aus dem Fenster starrte.
»Was ist los?«, fragte er. »Du bist auf einmal ganz weit weg.«
Sie wandte sich um.
»Ich musste gerade an Michael denken«, sagte sie, »und daran, dass ich ihm noch vor Weihnachten alles über uns erzählen will. Es fällt mir nicht leicht, weißt du. Er hat sich immer an mir festgehalten, ich war immer seine Zuflucht, seine Beschützerin. Aber es ist schrecklich, ihn ständig zu belügen. Und mir graut bei der Vorstellung, dass er Weihnachten ganz allein verbringen muss. Seine Mutter lebt nicht mehr, zu seinem Vater hat er keinen Kontakt. Vielleicht kann er zu meinen Eltern gehen, aber die wohnen inzwischen den größten Teil des Jahres auf Menorca. Er steht ihnen recht nahe …«
Andrew sagte nichts. Sie dachte, dass er vielleicht keinen Grund sah, sich um das Wohlergehen seines Vorgängers viele Gedanken zu machen.
»Er wird seinen Weg finden«, sagte sie, mit leichterer Stimme, als sie sich tatsächlich fühlte, »und ich möchte Weihnachten auf jeden Fall mit dir verbringen. Nicht mehr mit ihm.«
Andrew sagte noch immer nichts. Er stand von seinem Sofa auf, trat vor den Kamin, legte einen neuen Scheit ins Feuer.
»Andrew?«, fragte Virginia unsicher.
Er blickte in die Flammen, die sich knisternd und prasselnd auf das neue Stück Futter stürzten.
Virginia stellte ihren Kaffeebecher ab. »Andrew, was ist los?«
Er sah sie nicht an. »Wegen Weihnachten«, sagte er. »Schatz, Virginia, es wird nicht gehen, dass wir zusammen feiern.« »Warum denn nicht?«
Er holte tief Luft. »Wegen Susan«, sagte er, »meiner Frau. Sie trifft am 23. Dezember in Cambridge ein.«
Tiefes Schweigen folgte seinen Worten, aber in dieser Stille dröhnte die ganze Ungeheuerlichkeit dessen, was er gesagt hatte.
»Wie bitte?«, fragte Virginia nach einer Weile, ebenso fassungslos wie ungläubig.
Andrew wandte sich endlich zu ihr um und schaffte es, ihr in die Augen zu blicken. Er wirkte bekümmert, aber zugleich auch ein wenig erleichtert, wie jemand, der sich entschlossen hat, ein unangenehmes Vorhaben nicht länger aufzuschieben, sondern anzupacken.
»Es tut mir leid, Virginia. Ich hätte es dir längst sagen sollen. Ich bin verheiratet.«
»Aber …« Sie fasste sich an den Kopf, als könne sie mit dieser Bewegung Ordnung in ihre sich wild überschlagenden Gedanken bringen.
»Ich war in den letzten Wochen ständig drauf und dran, es dir zu sagen. Aber nachdem ich die richtige Gelegenheit am Anfang versäumt hatte, erschien plötzlich jeder Moment unseres Zusammenseins irgendwie unpassend. Ich war zu feige, Virginia. Ich hoffte auf eine günstige Gelegenheit. Ich hätte wissen müssen, dass es in Fällen wie diesem so etwas wie eine günstige Gelegenheit gar nicht gibt. Und dass jeder Tag, den ich verstreichen lasse, alles nur schlimmer macht.«
»Deine Frau …«
»… lebt im Moment noch in London. Sie ist dort Lehrerin an einer Schule. Ich bekam die Chance, in Cambridge Partner in einer großen Kanzlei zu werden, und ich musste diese Gelegenheit ergreifen. Für Susan bot sich natürlich nicht zeitgleich eine Möglichkeit für einen beruflichen Wechsel, daher blieb sie vorläufig in London. Im nächsten September kann sie an eine Schule in Cambridge wechseln.«
Sie war wie vor den Kopf geschlagen.
»Ich kann es kaum glauben«, flüsterte sie.
Andrew war mit zwei Schritten bei ihr, kauerte sich neben sie und ergriff ihre
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