Das Echo der Schuld
gefälligst deine Pfoten da weg?«
Alle drehten sich um, erschrocken über den plötzlichen Wutausbruch. Ganz hinten im Laden stand ein kleines Mädchen im blauen Regencape vor dem Regal mit Karten aller Art: Geburtstagskarten, Beileidskarten, Hochzeitskarten, Einladungskarten. Die Kleine wurde puterrot und kämpfte sichtlich mit den Tränen.
»Grabscht dauernd die Karten für die Kindergeburtstage an!«, rief der Ladeninhaber. »Ich hab sie schon mal verwarnt! Hör mal, kleine Lady, entweder du kaufst die Karten jetzt, oder du hörst auf, mit deinen Fettfingern Flecken darauf zu machen! Sonst kannst du was erleben!«
»Es ist doch noch ein Kind!«, meinte Virginia beschwichtigend.
Ihr Gegenüber starrte sie entrüstet an. »Die sind aber die Schlimmsten. Die Kinder! Die machen alles kaputt! Sie würden nicht glauben, was ich hier manchmal entdecke, nachdem irgendeine Schülerhorde durchmarschiert ist. Fassen alles an, zerstören mutwillig Bücher und Karten und Andenken. Und klauen wie die Raben. Wissen Sie, in diesen Zeiten ist das hart. Das kostet mich Geld, das ich einfach nicht habe!«
Sie konnte ihn verstehen. Aber das kleine Mädchen, dem jetzt die Tränen über die Wangen liefen, war ganz sicher die falsche Adresse für seinen Zorn. Es sah nicht aus wie jemand, der mutwillig Dinge zerstörte.
Virginia bezahlte ihre Zeitschriften und verließ den Laden. Der Regen wurde um nichts schwächer, und das würde wohl bis zum Abend so gehen. Jetzt gab es keine Ausrede mehr: Jetzt würde sie das Kleid kaufen.
Ehe sie wieder von ihrer Angst überwältigt werden konnte, rannte sie, die Tüte mit den Zeitschriften schützend über den Kopf haltend, zu der Boutique hinüber. Wie immer fand sie eine reiche Auswahl an Cocktailkleidern vor. Sie entschied sich für ein dunkelblaues, das vorn hochgeschlossen war und hinten einen sehr attraktiven, aber keineswegs zu provozierenden Rückenausschnitt hatte. Sie konnte dazu die Saphire tragen, die Frederic ihr zu Kims Geburt geschenkt hatte.
Sehr elegant, dachte sie, und ironisch fügte sie hinzu: Und konservativ genug für den Anlass und die Umgebung!
Es war inzwischen Viertel nach drei. Sie würde nun ins Krankenhaus zu Livia fahren.
Livia Moor war in einem Zimmer mit zwei anderen Frauen untergebracht. Ihr Bett stand direkt am Fenster, und sie lag völlig regungslos, mit abgewandtem Gesicht darin. Die beiden anderen Frauen hatten Obst und Bücher neben sich liegen und unterhielten sich lebhaft, verstummten aber, als Virginia eintrat. Virginia spürte die neugierigen Blicke im Rücken, als sie an Livias Bett trat.
»Livia«, sagte sie leise, »können Sie mich hören? Ich bin es, Virginia!«
Sie war entsetzt, wie schlecht die junge Frau aussah. Auf Skye hatte sie schon fast wie eine Schlafwandlerin gewirkt, zutiefst geschockt von den Erlebnissen, aber die zarte Bräune ihrer Haut, das windzerzauste Haar hatten sie trotzdem körperlich gesund aussehen lassen. Jetzt waren ihre Wangen eingefallen und hatten eine fahle, beinahe gelbliche Farbe angenommen. Ihre Hände, die auf der weißen Bettdecke lagen, zuckten ständig ganz schwach hin und her. Ihre ungewaschenen Haare waren aus der Stirn gekämmt, und man konnte ein Geflecht zarter, blauer Adern an ihren Schläfen pulsieren sehen. War ihre Nase schon immer so spitz gewesen? Ihre Finger so zerbrechlich? Ihr Hals so sehnig?
Sie öffnete die Augen, als Virginia sie ansprach, aber sie wandte nicht den Blick zu ihr hin. Sie schien aus dem Fenster in den Regen zu starren, aber man hatte nicht den Eindruck, dass sie das Wetter dabei wahrnahm. Oder das aufgeweichte Stück Wiese, das sich jenseits ihres Fensters befand.
»Livia, ich habe Ihnen etwas zu lesen mitgebracht.« Sie zog die Zeitschriften aus der nassen Tüte, aber ihr war klar, dass Livia sie nicht ansehen würde. »Ich dachte mir, Sie langweilen sich hier bestimmt sehr …«
Livia rührte sich nicht. Nur ihre Hände zuckten unablässig.
»Die gehört doch in die Psychiatrie!«, murmelte eine der Frauen hinter Virginia. »Ich frage mich, was die hier soll!«
Offenbar war Livia nicht gerade beliebt. Ihre Zimmergenossinnen waren stämmig und standen vermutlich kurz vor der Entlassung – so rosig und gesund, wie sie aussahen. Sie hätten sich sicher eine weitere Plaudertasche gewünscht, die Leben in die Bude brachte und neue Themen eröffnete. Stattdessen hatten sie dieses stille Bündel aus Haut und Knochen ins Zimmer bekommen, das kein Wort sprach und dessen
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