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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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durch die Luft. Er nahm ihn mit in die Küche, wo er ihm beim Kochen helfen und ein richtiges Chaos anrichten durfte, oder er sah mit ihm fern oder ließ ihn an seinem Computer spielen. Als Michael im Sommer genug Geld gespart hatte, um sich ein Auto kaufen zu können, wollte Tommi sich nur noch damit beschäftigen. Stundenlang hockten er und Michael in dem Wagen, Tommi auf dem Fahrersitz, mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen. Manchmal ließ Michael sogar den Motor laufen. Tommi tat so, als sei er ein berühmter Rennfahrer, der auf den Rennbahnen von Monza oder Monte Carlo gerade alle anderen Teilnehmer weit hinter sich ließ.
    Etwas verärgert dachte Virginia von Zeit zu Zeit, dass es Michael in der für ihn typischen Art und Weise wieder einmal hemmungslos übertrieb. Wenn er einen Menschen mochte, klammerte er sich an ihn, verschlang ihn förmlich mit Haut und Haaren. So machte er es seit Jahren mit ihr, so geschah es nun auch mit diesem kleinen Jungen. Stets gewann man den Eindruck, dass er jeden, den er einmal ins Herz geschlossen hatte, am liebsten für immer und ewig an sich ketten wollte.
    Übertrieben, dachte sie, und wie unreif er sein kann!
    Andererseits verschaffte ihr seine Zuneigung zu Tommi gewisse Freiräume. In der Zeit, die er mit dem Jungen verbrachte, konnte sie ihren eigenen Dingen nachgehen, ohne ständig befürchten zu müssen, dass er sie in der Heiratsfrage bedrängte. Zudem hoffte sie, er werde das Thema eigenen Nachwuchses weniger häufig anschneiden, wenn er seine Leidenschaft für Kinder anderweitig stillen konnte. Also sagte sie nichts und ließ ihn gewähren, schüttelte nur im Stillen den Kopf über ihn.
    Eines Tages sagte Michael: »Es wäre gut, wenn wir die Garage freiräumen und den Wagen darin parken könnten. Tommi ist verrückt nach dem Auto, und ich habe Angst, dass er sich irgendwann einmal hineinsetzt, wenn ich nicht da bin, und die Handbremse löst. Bei dieser Steillage würde er zwangsläufig auf die Straße rollen.«
    Virginia hatte die Garage inzwischen vollkommen mit ihren Gartenutensilien okkupiert. »Das geht nicht. Ich weiß nicht, wohin ich mit meinen Sachen soll!«
    »Aber …«
    » Du hast ihn doch so verrückt nach dem Auto gemacht! Das kannst du jetzt nicht mich ausbaden lassen.«
    Wie immer mochte er es nicht riskieren, mit ihr in Streit zu geraten. »Okay. Okay. Wir müssen dann aber darauf achten, dass das Auto immer abgeschlossen ist. Dann kann nichts passieren.«
    »Alles klar«, sagte Virginia friedlich, »ich passe auf. Versprochen.«
    Sie mochte Tommi. Nicht so fanatisch wie Michael, aber sie hatte den fröhlichen Jungen ebenfalls in ihr Herz geschlossen. Michael lächelte.
    »Es ist schön, hier mit dir zu leben«, sagte er.
    Sie sah ihn an und dachte: Wie du mich langweilst!
     
    3
     
    »Ja«, sagte Virginia, »so war das. Wir lebten dort in St. Ives in einer kleinbürgerlichen Idylle, in der Michael sich sehr wohl zu fühlen begann – sieht man davon ab, dass er mit seinen Heiratswünschen bei mir auf Granit biss und dass ich mich seiner Hoffnung auf ein gemeinsames Kind beharrlich widersetzte. Ich dachte viel an Andrew, vergrub mich in der Gartenarbeit und hatte ein chronisch schlechtes Gewissen.«
    Sie saßen in der Küche, tranken jeder die vierte oder fünfte Tasse Kaffee. Nathan hatte angeboten, ein Frühstück zu machen, aber Virginia hatte erklärt, keinen Hunger zu haben, und Nathan hatte sich stillschweigend angeschlossen. Es war noch früh am Morgen, und obwohl es aufgehört hatte zu regnen, herrschte eine herbstliche Atmosphäre. Kein Sonnenstrahl fiel durch das Geäst der tropfnassen Bäume, die plötzlich noch dichter an die Fenster des Hauses herangerückt zu sein schienen. Virginia, die schon um sechs Uhr morgens ihre Runde durch den Park gejoggt war und nun im dicken Pullover und mit warmen Socken an den Füßen der Kälte trotzte, überlegte, ob sie die Heizung im Haus anschalten sollte.
    Dabei haben wir immer noch August, dachte sie.
    Nathan war erschienen, als sie gerade das Kaffeepulver in die Maschine füllte, und sie war erstaunt gewesen, wie sehr sie sich darüber freute. Normalerweise hatte sie nichts dagegen, morgens allein in der Küche zu sitzen, ihren Kaffee zu trinken und ihren Gedanken nachzuhängen, aber etwas begann sich in ihr zu verändern in den letzten Tagen. Nicht unbedingt zum Guten, wie sie fand. Sie wurde unruhiger. Ertrug das Alleinsein schlechter. Wälzte sich nachts schlaflos in ihren Kissen und

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