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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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für die Fenster nähte. Sie bepflanzten den Garten und begannen nach Rücksprache mit dem Vermieter, den vorderen Begrenzungszaun abzubauen, um das kleine Grundstück ein wenig großzügiger wirken zu lassen. Da das Haus am Hang gebaut war, bestand der vordere Teil des Gartens aus einem Steilhang, an dessen rechter Seite entlang man über eine Treppe nach oben zur Haustür gelangen konnte. Auf der anderen Seite befand sich eine Auffahrt, die zur Garage führte. Da Virginia und Michael zunächst kein Auto besaßen, funktionierten sie die Garage zur Gartenhütte um, und bald war sie mit allerlei Geräten, Terrakottatöpfen und Kästen voller Saatgut gefüllt. Virginia widmete sich dem Garten mit einer Hingabe, die sie selbst erstaunte; sie hatte nie zuvor Lust verspürt, in der Erde zu graben oder Blumen und Büsche zu pflanzen. Jetzt aber hatte sie den Eindruck, sich unbewusst eine Therapie gesucht zu haben. Das Werkeln in der frischen Luft, der Geruch nach Erde und Gras, die Freude, dem Wachsen und Blühen ringsum zuzuschauen, halfen ihr, mit dem Schmerz um ihre verlorene Liebe fertigzuwerden. Es ging ihr schrittweise immer besser. Auch der räumliche Abstand zu Cambridge tat ihr gut. Zwar fuhr sie jeden Morgen zur Uni und nahm schließlich auch noch einen Aushilfsjob in der Bibliothek an, aber sie verließ kaum je das Collegegelände, und so bestand wenig Gefahr, Andrew und seiner Familie plötzlich über den Weg zu laufen. Und draußen in St. Ives musste sie sich ohnehin nicht fürchten. Sie unternahm lange Spaziergänge, fing an, regelmäßig zu joggen, befreundete sich mit den Nachbarn ringsum. Etwas spießige, aber nette Leute.
    Zum ersten Mal seit Jahren nahm ihr Leben eine friedliche Gangart an, wurde jeder Tag zum Abbild seines Vorgängers, breiteten sich Ruhe und Vorhersehbarkeit um sie herum aus.
    Problematisch blieb Michael. Er hatte das Thema Heiraten eine Weile nicht mehr angeschnitten, mit Anbruch des neuen Jahres aber umso heftiger wieder damit begonnen. Familie, Kinder – er schien um kaum sonst etwas zu kreisen.
    »Ich will jetzt kein Kind«, sagte Virginia dann stets genervt.
    Was ihn zu der unvermeidlichen Erwiderung brachte: »Aber man sollte nicht zu lange warten. Plötzlich sind Jahre vergangen, und man merkt, dass man zu spät dran ist!«
    »Ich bin Anfang zwanzig, mein Gott! Ich habe Zeit ohne Ende!«
    »Du bist fast Mitte zwanzig!« »Na und? Ich studiere noch.«
    »Du könntest in diesem Jahr deinen Abschluss machen. Und dann …«
    »Und dann nur noch Kinderwagen schieben? Ich bin doch nicht verrückt. Dann hätte ich doch gar nicht erst zur Uni gehen müssen!«
    Es waren fruchtlose Diskussionen, die manchmal im Streit, manchmal in gekränktem Schweigen endeten.
    »Warum heiraten wir nicht wenigstens?«, fragte Michael. »Wozu? Was würde sich ändern?«
    »Für mich würde sich etwas ändern. Es ist … eine andere Art, sich zu bekennen.«
    »Ich brauche dieses Bekenntnis nicht«, behauptete Virginia. In Wahrheit, und das wusste sie genau, hätte sie sagen müssen: Ich möchte mich nicht zu dir bekennen.
    Als im Nachbarhaus eine junge Familie einzog, begann sich Michael eng mit diesen Leuten anzufreunden. Besonders der siebenjährige Sohn Tommi hatte es ihm angetan.
    »So einen Jungen möchte ich auch einmal haben«, sagte er oft zu Virginia, bis diese ihn eines Tages entnervt anschnauzte: »Jetzt lass mich endlich damit in Ruhe! Wenn du eine Gebärmaschine haben willst, musst du dir eine andere Frau suchen!«
    Für eine Weile sagte er nichts mehr, aber das Thema stand auch unausgesprochen ständig zwischen ihnen, und Virginia begann sich zu fragen, wie lange ein Zusammenleben unter diesen Umständen funktionieren würde. Im Grunde wusste sie, dass sie ihn verlassen würde, sobald sie die Wunden, die Andrew ihr zugefügt hatte, lange genug geleckt und ihr Selbstvertrauen und ihre Lebensfreude im alten Umfang wiedergefunden haben würde. Manchmal plagte sie deswegen ein schlechtes Gewissen. Dann wieder sagte sie sich, dass Michael es längst spüren musste, dass sie seine Gefühle nur unvollständig und in höchst reduzierter Form erwiderte, und es war nicht ihr Problem, wenn er sich beharrlich selbst etwas vormachte.
    Tommi, der Nachbarsjunge, war bald täglich bei ihnen zu Gast. Abends, wenn sie beide aus Cambridge zurückkehrten, stand er häufig schon vor der Haustür und wartete.
    »Michael!«, schrie er dann. »Michael!« Und Michael lief hin zu ihm, hob ihn hoch und wirbelte ihn

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