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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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liebte.
    Während er ihr Bild ansah, dachte er plötzlich voller Schuldgefühle, dass er sie möglicherweise zu sehr unter Druck gesetzt hatte.
    »Ich will, dass es dir gut geht«, sagte er leise zu dem Bild, und diese Worte entsprangen seinem tiefsten und aufrichtigsten Wunsch. »Ich mag dich nicht zu etwas zwingen, was du überhaupt nicht willst!«
    Ihr angestrengtes, aufgesetztes Lächeln sagte ihm plötzlich mit grausamer Deutlichkeit, dass es ihm nicht einmal am Tag ihrer Hochzeit gelungen war, sie glücklich zu machen.
     
    3
     
    Livia Moor begriff nicht, wo sie war, und für etliche Momente wusste sie nicht einmal, wer sie war und woran sie sich erinnern könnte. Alles war Nebel, war eine unwirkliche, grau wogende Masse, die sie umschloss, in der sie atmete und existierte, aber nicht wirklich lebte. Über sich sah sie eine schmuddelig weiße Zimmerdecke, neben sich Wände in dem gleichen unangenehmen Farbton. Sie lag auf dem Rücken in einem Bett, ihre Hände fingerten an einem dünnen Laken herum, das sie bedeckte. Der Geruch, der sie umgab, war ihr nicht vertraut, und sie mochte ihn auch nicht. Mühevoll versuchte sie zu ergründen, woraus er sich zusammensetzte. Bohnerwachs. Desinfektionsmittel. Verkochtes Essen.
    Ich möchte hier nicht sein, dachte sie.
    Dann wandte sie langsam den Kopf zur Seite. Sie sah einen Mann an ihrem Bett sitzen. Braungebrannt, dunkelhaarig. Er trug ein T-Shirt, das ihm zu eng war um die breiten Schultern.
    Er musterte sie, kühl und emotionslos. Sie wusste plötzlich, dass es Nathan war, dass er ihr Mann war. »Ich bin Livia Moor«, sagte sie leise.
    Er neigte sich nach vorn. »Die ersten Worte seit Tagen«, sagte er.
    Livia nahm zwei Frauen wahr, die, in Morgenmäntel und Pantoffeln gekleidet, ein Stück hinter Nathan standen und ihn mit ihren Blicken förmlich verschlangen. Im Übrigen schienen sie entschlossen, sich kein Wort, keinen Moment von der sich vor ihnen abspielenden Szene entgehen zu lassen.
    Ganz allmählich begann sich ihr Gehirn mit Bildern zu füllen: Nathan und sie. Ein Haus mit einem Garten. Menschen, die durch alle Räume zogen, sich die besten Stücke aussuchten. Dann das Schiff. Sie warf ihren Koffer über die Reling, hörte ihn auf dem Deck aufprallen. Sie balancierte hinterher, musste die Zähne zusammenbeißen, weil die Tränen in ihre Augen drängten. Nathan, der die Segel hisste. Der Wind spielte in seinen Haaren. Der Tag war klar und kühl. Die Wellen schwappten klatschend gegen die Bordwand.
    Die Wellen. Das Meer.
    Sie setzte sich ruckartig auf.
    »Unser Schiff!« Ihre eigene Stimme kam ihr fremd vor. »Unser Schiff ist untergegangen!« Nathan nickte. »Oben vor den Hebriden.« »Wann?«
    »Am siebzehnten August.«
    »Welcher Tag ist heute?«
    »Der dreißigste August.«
    »Dann … ist das gerade erst passiert …«
    Er nickte wieder. »Ziemlich genau vor zwei Wochen.«
    »Wo bin ich?«, fragte sie.
    »In einem Krankenhaus. In King's Lynn.«
    »King's Lynn?«
    »Norfolk. England.«
    »Wir sind immer noch in England?«
    »Du warst nicht transportfähig. Es war grauenhaft, dich überhaupt bis hierher zu bringen. Du warst kaum noch bei Bewusstsein. Streckenweise müssen die Menschen um uns herum gedacht haben, ich schleppe eine Halbtote mit mir herum.«
    Eine Halbtote … Ihr Blick irrte in dem häßlichen Zimmer umher. Sie fing die frustrierten, feindseligen Blicke der beiden Frauen in den Morgenmänteln auf. Nathan und sie sprachen deutsch miteinander, vermutlich konnten die beiden kein Wort verstehen. Waren sie deshalb so verärgert?
    »Was war los mit mir?«
    Er lächelte sanft. Sie entsann sich dieses Lächelns. Es war das Lächeln, in das sie sich viele Jahre zuvor verliebt hatte. Inzwischen kannte sie es gut genug, um leise zu schaudern, wenn er es ihr schenkte.
    »Du hast einen Schock erlitten, als das Schiff sank. Es hätte dich fast mit nach unten gezogen. Wir trieben die ganze Nacht auf der Rettungsinsel im Meer. Du bist seither nicht mehr dieselbe.«
    Sie versuchte den Sinn seiner Worte zu erfassen. »Willst du sagen, ich bin … ich bin verrückt?«
    »Du leidest unter den Nachwirkungen eines Schocks. Das ist nicht das Gleiche wie verrückt. Du hattest aufgehört zu essen und zu trinken. Du warst völlig dehydriert und hast wirres Zeug erzählt. Sie haben dich hier künstlich ernährt.«
    Langsam ließ sie sich in das Kissen zurücksinken. »Ich will nach Hause, Nathan.«
    Er lächelte abermals sanft. »Wir haben kein Zuhause mehr,

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