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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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arbeitest. Sonst kommst du noch auf dumme Ideen!«
    »Hm«, machte Janie. Sie kaute auf ihrem Sandwich herum. Mum machte gute Sandwiches, mit Schinken, Gewürzgurken und Mayonnaise, und für gewöhnlich aß Janie sie besonders gern. Aber an diesem Tag war ihr völlig der Appetit vergangen. Sie überlegte, ob sie einen Vorstoß wagen sollte.
    »Ich habe ja bald Geburtstag«, sagte sie.
    »Ich weiß«, sagte Doris, »und wenn du jetzt mit irgendwelchen überspannten Wünschen kommst, muss ich dir leider gleich sagen: Schlag sie dir aus dem Kopf! Das Geld reicht mal wieder vorn und hinten nicht.«
    »Oh – ich habe eigentlich gar keinen Wunsch!«, erwiderte Janie hastig.
    Ihre Mutter zog die Augenbrauen hoch. »Das wäre aber mal etwas ganz Neues!«
    »Na ja, einen einzigen Wunsch hätte ich schon, aber es ist nicht direkt ein Geschenk … also, keines, das du im Laden kaufen kannst.«
    »Da bin ich aber gespannt.«
    »Ich würde so gern eine Party feiern, Mum. Meine Freunde einladen und …«
    Ihre Mutter ließ sie nicht aussprechen. »Schon wieder! Das Thema hatten wir doch erst letztes Jahr. Und das Jahr davor auch!«
    »Ich weiß, aber … Mein Geburtstag ist dieses Jahr an einem Sonntag. Du müsstest dir nicht freinehmen oder so … und wir könnten am Samstagnachmittag, wenn du zu Hause bist, alles vorbereiten, und …«
    »Und du meinst, dieses Geschenk kostet kein Geld? Wenn du jede Menge Kinder einlädst und ich sie durchfüttern muss?«
    »Wir könnten den Kuchen doch selber backen.«
    »Janie!« Doris legte für eine Sekunde den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Janie sah die feinen blauen Adern unter der weißen Haut an Mums Schläfe pochen. Über dem Ohr zogen sich graue Strähnen durch ihre blonden Haare, obwohl Mum noch ziemlich jung war. Sie sah so müde und abgekämpft aus, dass es Janie plötzlich ganz klar wurde: Es nützte nichts. Sie konnte bitten und betteln so viel sie wollte. Mum würde es nicht erlauben. Mum hatte vielleicht wirklich nicht die Kraft dafür.
    Doris öffnete die Augen wieder und sah ihre kleine Tochter an. Sie wirkte plötzlich viel weniger gereizt und ungeduldig als sonst. Sie hatte fast etwas Weiches an sich.
    »Janie, es tut mir leid, aber ich schaffe das nicht«, sagte sie leise. »Es tut mir wirklich leid. Dein Geburtstag ist ein ganz besonderer Tag, auch für mich. Aber ich schaffe es nicht. Ich bin zu müde.«
    Sie sah so traurig und erschöpft aus, dass sich Janie zu versichern beeilte: »Das macht nichts, Mummie. Ehrlich, es ist nicht so schlimm.«
    Doris wandte sich wieder ihrem Sandwich zu. Das Gespräch war nicht zu Janies Gunsten verlaufen, und dennoch schöpfte sie Hoffnung. Mum hatte so traurig ausgesehen, dass Janie den Eindruck hatte, sie litt wirklich darunter, ihrer Tochter deren sehnsüchtigen Wunsch nicht erfüllen zu können. Und das wiederum bedeutete, dass sie vielleicht nichts dagegen haben würde, wenn Janie die Party im Garten des fremden Mannes feierte. Sie konnte damit ihr Kind glücklich machen, ohne auf Kräfte zurückgreifen zu müssen, die sie nicht hatte.
    Wichtig war es jetzt umso mehr, den geheimnisvollen Fremden wiederzufinden.
    Den ganzen Abend über zerbrach sich Janie den Kopf, wie sie es anstellen konnte, ihn noch einmal zu treffen.

Donnerstag, 31. August
     
    1
     
    Kurz hatte er sogar überlegt, eine rote Rose mit an den Bahnhof zu nehmen. Für gewöhnlich hatte er wenig romantische Ambitionen, aber es ging ihm darum, Virginia zu zeigen, wie sehr er sich über ihr Kommen freute. Und wie sehr er es zu schätzen wusste, dass sie einen so großen Sprung über ihren Schatten tat, um ihn zu unterstützen. Er hatte sich dann doch dagegen entschieden, weil er sich in seinem Alter und nach neun Jahren Ehe etwas albern vorgekommen wäre, und auch weil er fürchtete, sie könne die Geste als unehrlich oder berechnend empfinden. Vielleicht war es am besten, so normal wie möglich aufzutreten. Am Ende beruhigte es sogar ihre Nerven am ehesten, wenn er wenig Aufhebens um die ganze Angelegenheit machte. Wenn er so tat, als sei alles ganz normal.
    Trotzdem war er eine halbe Stunde zu früh am King's-Cross-Bahnhof. Er hätte es schön gefunden, wenn die Sonne geschienen und London in ein freundliches Licht getaucht hätte, aber der August verabschiedete sich in grauen Farben, und der September würde wohl ebenso grau beginnen. Der Himmel war voller Wolken, ganz selten einmal blitzte irgendwo ein kleines Stück Blau hindurch. Aber wenigstens

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