Das Echo der Schuld
Polizei zu tun?, wurde gefragt, und im Nachfolgenden mutmaßte der Verfasser des Artikels, dass es sich bei beiden Verbrechen aller Wahrscheinlichkeit nach um denselben Täter handelte. Beide Kinder, die vierjährige Sarah Alby und die achtjährige Rachel Cunningham, stammten aus King's Lynn. Beide waren am helllichten Tag verschwunden, ohne dass offenbar irgendjemand etwas bemerkt hatte. Beide waren sexuell missbraucht und anschließend erdrosselt worden. Beide hatte man an abgelegenen, aber mit einem Auto gut erreichbaren Orten gefunden. Die Bevölkerung sei zutiefst beunruhigt, hieß es, Eltern ließen ihre Kinder nicht mehr allein auf der Straße spielen, und es hätten sich bereits Fahrgemeinschaften gebildet, die sicherstellten, dass Kinder auf dem Schulweg keinen Schritt mehr ohne Aufsicht taten. Allgemein wurde der Ruf nach einer SoKo laut, die sich mit konzentriertester Kraft der Aufklärung dieser beiden entsetzlichen Verbrechen widmen sollte. Frederic wusste, dass Sonderkommissionen den ohnehin knappen Polizeietat erheblich belasteten, aber auch er fand, dass man in diesem Fall nicht länger zögern durfte. Er war Politiker genug, um auf Anhieb zu erkennen, wie sehr sich dieses brisante, hoch emotionale Thema für den Wahlkampf eignete.
Nur dass er im Augenblick ganz andere, eigene Sorgen hatte. Um sich abzulenken, vertiefte er sich in die Zeitungen, las sie von der ersten bis zur letzten Seite, selbst den Sportteil, der ihn gewöhnlich nicht besonders interessierte. Als allererstes graues Tageslicht zwischen den Vorhängen hindurch ins Zimmer sickerte, sank sein Kopf zurück auf die Sofalehne, und er schlief zutiefst erschöpft ein.
2
Ihr Gedächtnis war jetzt wieder klar und hellwach, aber Livia wusste nicht, ob sie diesen Umstand begrüßen sollte. Eigentlich wäre es ihr lieber gewesen, sich nicht so genau zu erinnern. Immer wieder stand ihr die Szene vor Augen, als Nathan sie über die Reling der Dandelion gestoßen hatte: über ihr der dunkle Nachthimmel, unter ihr die schwarzen Wellen des Meeres. Nathan, der brüllte: »Runter vom Schiff! Spring!«
Sie hatte das Gefühl gehabt, in den Tod zu springen. Sie hatte Wasser nie besonders gemocht, das Meer nicht, Schiffe schon gar nicht. Sie hatte schon immer schreckliche Angst gehabt zu ertrinken. Sie konnte sich nicht einmal Filme über Schiffsunglücke ansehen.
Und irgendwie wurde sie das Gefühl, dem Tod direkt ins Auge gesehen zu haben, von ihm bereits umarmt worden zu sein, nicht los. Sie wusste, dass sie lebte. Sie wusste es, seit sie es geschafft hatte, aus dem schwarzen, rauschenden, alles verschlingenden Meer in das Rettungsboot zu kriechen. Seit das Fischerboot aufgetaucht war und sie an Bord genommen hatte. Seit sie in Portree wieder festen Boden unter den Füßen gespürt hatte, gehüllt in eine Wolldecke, in der Hand eine Flasche Mineralwasser, die ihr irgendjemand gegeben hatte. Sie wusste auch jetzt, dass sie lebte. Aber sie schaffte es nicht, den Gedanken an den Tod beiseite zu schieben. Er war immer noch da, dicht neben ihr. In Gestalt der schwarzen, gurgelnden Wellen.
Am frühen Morgen war der Arzt bei ihr gewesen und hatte ihr erklärt, dass man sie an diesem Tag entlassen würde.
»Körperlich sind Sie wiederhergestellt«, hatte er gesagt, »und dies zu erreichen war unsere Aufgabe. Mehr können wir jetzt nicht für Sie tun. Sie sollten sich aber unbedingt in psychotherapeutische Behandlung begeben. Mit einem Schock ist nicht zu spaßen.«
Sie hatte noch im Bett gefrühstückt, mehr als zwei Schlucke Kaffee und einen Löffel Marmelade jedoch nicht herunterbekommen. Ihre Zimmergenossinnen hatten einige Male versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie hatte so getan, als verstehe sie nur schlecht Englisch und könne es noch schlechter sprechen, und so hatten die anderen schließlich aufgegeben. Sie aber hielt es in dem Zimmer nicht mehr aus. Sie stand auf, schleppte sich auf weichen Knien ins Bad, starrte das hohlwangige, bleiche Gespenst im Spiegel an. Entlassen! Das stellte sich der Arzt so einfach vor. Sie musste warten, bis Nathan vorbeikam, und nachdem er sich am Vortag nicht hatte blicken lassen, stieg von Minute zu Minute ihre Angst, er werde auch heute nicht auftauchen. Dann stand sie da, ohne ein Bett, aber auch ohne Geld und ohne eine Ahnung, wohin sie gehen sollte. Den höhnischen Blicken der beiden Weiber in ihrem Zimmer ausgesetzt, die sicher schon allmählich spannten, dass in ihrer Ehe etwas ganz
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