Das Echo der Schuld
ansteuerte.
»Mr. Quentin!«, rief sie. »Mr. Quentin, warten Sie!«
Der Schwindel, der sie überfiel, war so heftig, dass sie sich an einer der Säulen in der Mitte der Halle festhalten musste.
»Mr. Quentin!«, krächzte sie noch einmal.
Gott sei Dank hatte er sie endlich gehört. Er blieb stehen, drehte sich um, sah sie an. Kam dann mit raschen Schritten auf sie zu.
»Mrs. Moor!«, sagte er überrascht. Er starrte sie an. »Lieber Himmel, Sie …« Er sprach nicht weiter. Sie wusste, dass sie zum Gotterbarmen aussah, sie konnte es in seinen Augen lesen.
»Wo ist Ihr Mann?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Sie hätte gern lauter gesprochen, denn sie merkte, dass Frederic Quentin sich sehr anstrengen musste, sie zu verstehen, aber sie war mittlerweile so entkräftet, dass sie nur noch flüstern konnte. »Ist er … ist er denn nicht bei Ihnen? Er sagte, dass er … bei Ihnen wohnt.«
»Das ist alles etwas kompliziert«, sagte Frederic. Sie war dankbar, dass er ihren Arm fasste, denn sie war dicht daran, einfach umzufallen.
»Hören Sie, ich glaube, wir sollten nach oben gehen und einen Arzt …«
»Nein!« Sie schüttelte den Kopf. Fast panisch wiederholte sie: »Nein! Ich will hier weg! Ich will hier weg! Der Arzt hat gesagt, dass ich gehen darf. Bitte helfen Sie mir, dass ich …«
»Okay, okay«, sagte er beschwichtigend, »es war nur ein Vorschlag. Wir verlassen jetzt das Krankenhaus, in Ordnung? Haben Sie Gepäck?«
Sie wies zu der Telefonzelle, wo ihre Tasche stand. »Ja. Diese Tasche.«
Er hielt weiterhin ihren Arm fest, als er mit ihr die Halle durchquerte und die Tasche hochnahm.
»Ich fürchte, in einem Cafe kippen Sie mir um«, sagte er. »Ich denke, wir fahren nach Ferndale. Zu mir nach Hause. Sind Sie einverstanden? Dort können Sie sich auf das Sofa legen, und irgendwo finde ich bestimmt noch ein paar Kreislauftropfen. Sind Sie ganz sicher, dass Sie hier weg dürfen?«
»Ja.«
Sie hatte den Eindruck, dass er ihr nicht recht glaubte, aber wenigstens versuchte er nicht, sie wieder nach oben zu schaffen, sondern steuerte die Tür ins Freie an.
»Mein Mann ist also nicht da?«, vergewisserte sie sich. »Er ist nicht bei Ihnen daheim?«
Frederics Lippen pressten sich zu einem Strich zusammen. Livia erkannte, dass er wütend war. Sehr wütend. »Nein«, sagte er, »er ist nicht da. Und, offen gestanden, hatte ich gehofft, von Ihnen zu erfahren, wo er sein könnte.«
Eineinhalb Stunden später war Livia nur noch ratlos. Körperlich ging es ihr besser, der schreckliche Schwindel war abgeflaut, der Schweiß auf ihrer Haut getrocknet. Sie saß am Tisch in der Küche von Ferndale House und trank ihre dritte Tasse Kaffee. Frederic hatte ihr ein Brot getoastet, an dem sie mit winzigen Bissen herumkaute. Sie konnte nicht schnell essen, da ihr sonst wieder übel wurde. Sie hatte aber eingesehen, dass sie irgendetwas zu sich nehmen musste.
Frederic hatte sich nicht gesetzt, er war, seine Kaffeetasse in der Hand, auf und ab gegangen. Er hatte ihr erzählt, wie er vergeblich in London am Bahnhof auf Virginia gewartet hatte und wie er sich schließlich am späten Abend noch auf den Weg nach King's Lynn gemacht hatte. Dass seine Tochter wie vereinbart bei dem Verwalterehepaar abgegeben worden war und dass Virginias Koffer fehlte. Dass ihr Auto fort war, dass er das Haus verriegelt vorgefunden hatte. Dass es keine Spur von Nathan Moor gab, der in den vergangenen Tagen hier gewohnt hatte.
»Ich habe heute in aller Frühe mit meiner Tochter gesprochen«, sagte er, »aber leider hat das nicht viel gebracht. Ihre Mutter hat ihr gesagt, dass sie zu mir nach London fahren wird und dass wir beide am Samstag wiederkommen werden. Sie haben zusammen ein paar Sachen eingepackt und sind dann hinüber zu den Walkers gegangen. Von Nathan Moor hat sich Kim im Wohnzimmer verabschiedet, er schaute sich irgendeine Sportsendung im Fernsehen an. Gegenüber Mrs. Walker hat meine Frau nur erwähnt, dass sie nun packen will. Das Angebot Mr. Walkers, sie zum Bahnhof zu fahren, lehnte sie ab. Es gab aber nicht den kleinsten Hinweis, dass sie nicht vorgehabt haben sollte, tatsächlich nach London aufzubrechen.«
Livia würgte den nächsten kleinen Bissen Brot hinunter. Es kam ihr vor, als sei ihr Magen verschlossen. Jeder kleine Krümel Nahrung musste sich mühsam und langsam seinen Weg bahnen.
»Ich verstehe das nicht«, sagte sie hilflos, »ich denke dauernd über den letzten Besuch meines
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