Das Echo der Schuld
und gar nicht stimmte.
Sie wusch sich oberflächlich. Ihre Haare waren schon ganz dunkel vor Fett, aber sie hatte kein Shampoo, und eigentlich waren fettige Haare ihr geringstes Problem. Sie schlich ins Zimmer zurück, kramte ihre Sachen aus dem Schrank. Virginia Quentins Sachen, korrigierte sie sich. Sie selbst besaß ja nichts mehr auf dieser Welt. Überhaupt nichts mehr.
Die Jeans und der Pullover hatten ihr recht gut gepasst, waren aber jetzt viel zu weit. Sie musste viel Gewicht verloren haben. Die Hose rutschte bedenklich tief auf ihre knochigen Hüften hinunter, und in dem Pullover hätte sie glatt eine zweite Person untergebracht. Sie musste aussehen wie eine Vogelscheuche.
Eine skelettierte Vogelscheuche, fügte sie in Gedanken hinzu. Immerhin hatte die Erinnerung an Virginia Quentin sie auf den Einfall gebracht, zu versuchen, die Telefonnummer ihrer Wohltäterin ausfindig zu machen und sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Nur so konnte sie mit Nathan in Kontakt treten. Er musste sich um sie kümmern. Sie hoffte aus tiefstem Herzen, dass die Quentins im Telefonbuch standen oder bei der Auskunft registriert waren.
Sie packte ihre wenigen Habseligkeiten in die Segeltuchtasche, die Nathan im Schrank verstaut hatte, als er sie hier ablieferte. Was das betraf, hatte sie im Übrigen noch immer den einzigen Filmriss in ihrer Erinnerung an die vergangenen zwei Wochen: Sie wusste nicht, was auf Skye geschehen war, was Nathan veranlasst hatte, sie in ein Krankenhaus zu bringen. Auch von der Reise nach Norfolk und von der Aufnahme im Krankenhaus existierten für sie keine Bilder. Ihr abgemagerter Körper zeigte ihr jedoch, dass es womöglich unumgänglich für Nathan gewesen war, sie in eine Klinik zu bringen. Die Vorstellung, dass er nicht nur nach irgendeiner Möglichkeit gesucht hatte, sie bequem zu entsorgen, beruhigte sie.
Sie murmelte einen Abschiedsgruß in Richtung ihrer Zimmergenossinnen, der jedoch nicht erwidert wurde, dann trat sie hinaus auf den Gang. Im Schwesternzimmer war man erstaunt, dass sie so früh und so schnell gehen wollte, aber sie behauptete, ihr Mann erwarte sie bereits unten in der Eingangshalle. Sie dachte, wie gut es zumindest gewesen war, dass sie sich vor der Abreise in Deutschland für den Abschluss einer Reisekrankenversicherung stark gemacht hatte. Wenigstens die Kosten für ihren Krankenhausaufenthalt waren nun kein Problem.
In der Eingangshalle unten war es zu dieser frühen Stunde recht leer. Die Cafeteria hatte noch nicht geöffnet. Ein Mann, der den Zeitschriftenkiosk betrieb, rollte soeben ein weißes Drehgestell vor die Tür seines Ladens und begann die Tageszeitungen hineinzusortieren. Er gähnte ausgiebig und schien nicht mit besonderer Fröhlichkeit an die vor ihm liegenden Stunden zu denken.
Ein alter Mann im Morgenmantel stolperte, auf seine Gehhilfe gestützt, an den Auslagen einiger Geschäfte entlang, starrte in die Schaufensterscheiben, schien aber nicht wirklich an irgendetwas, das er dort sah, interessiert zu sein. Die triste Krankenhausatmosphäre, der sich Livia schon entronnen glaubte, als sie ihr Zimmer verließ, brach noch einmal mit geballter Wucht über sie herein. Sie kannte nur zu gut ihre gefährliche Neigung zu heftigen Depressionen. Sie musste möglichst rasch hier weg.
In einer Ecke entdeckte sie einen öffentlichen Fernsprecher, daneben lagen glücklicherweise auch etliche etwas ramponiert scheinende Telefonbücher. Sie stellte ihre Tasche ab, zog das erste Telefonbuch heran. Ihr war immer noch schwindelig, bei der kleinsten Bewegung brach ihr der Schweiß aus. Sie hatte zu lange gelegen und zu wenig gegessen. Ihr war klar, wenn Nathan sie nicht abholte, würde sie kaum hundert Meter weit kommen.
Und wohin sollte ich auch gehen?, dachte sie angstvoll.
Noch während sie entsetzt feststellte, dass es zahlreiche Quentins in King's Lynn und Umgebung gab, nahm sie aus den Augenwinkeln wahr, dass sich die automatische Schiebetür öffnete, die von der Eingangshalle ins Freie führte. Ohne besonderes Interesse und eher zufällig wandte sie den Kopf. Der Mann, der in Jeans und Pullover, ungekämmt und unrasiert, das Krankenhaus betrat, kam ihr sofort bekannt vor, aber ihr Gehirn brauchte ein paar Momente, um sich zu erinnern. Noch immer schien alles bei ihr langsamer zu laufen: ihre Bewegungen, ihr Denken, selbst ihr Fühlen. Aber dann begriff sie, klappte das Telefonbuch zu und versuchte, hinter dem Mann herzulaufen, der die Fahrstühle
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