Das Echo der Vergangenheit
gebrochenem Herzen zu trösten. In gewisser Hinsicht war das ebenso eine Herausforderung wie die esoterischen Fragen, mit denen Lance sich herumschlug.
Rese schüttelte den Kopf und fragte sich wieder einmal, wie sie hier gelandet war. Ihr Leben war so einsam gewesen und Moms Krankheit hatte die Leute zunächst davon abgehalten, sich mit ihnen anzufreunden. So waren ihre eigenen Mauern mit jedem Jahr dicker geworden. Wenn sie daran dachte, dass Lance so viel Zeit damit verbracht hatte, die Lebensumstände anderer Menschen zu verbessern, und in Orten wie Kingston sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte und dass Michelle in einem Warenhaus voller Spenden für die Armen lebte, die sie täglich besuchte, drehte sich ihr der Kopf.
Aber so fehl am Platze sie sich manchmal auch fühlte, es war nichts im Vergleich dazu, Star hierzuhaben. Sie waren sonntags alle mit in die Gemeinde von Lance gegangen, was an sich schon nervenaufreibend war, weil man nie sicher sein konnte, was Mom sagte oder tat, obwohl die anderen sie zu akzeptieren schienen – erstaunlicherweise. In dem bewussten Bemühen, ihre Freundschaft zu festigen, hatte Rese Star einfach gefragt, ob sie zur Bibelstunde in Michelles Gemeinde mitkommen wolle, und ihre Überraschung nicht gezeigt, als Star die Einladung angenommen hatte. Michelle und die Frau des Pastors, Karen, hatten sofort Freundschaft mit ihr geschlossen.
Michelle nahm ihre Bibel in die Hand. »In Johannes 21 fragt Jesus Simon Petrus: ‚Liebst du mich wirklich mehr als diese?‘ Petrus antwortet: ‚Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe.‘ Und Jesus sagt zu Petrus, er solle seine Lämmer weiden.«
Michelle räusperte sich, bevor sie fortfuhr. »Dann fragt Jesus Petrus genau das Gleiche noch einmal und sagt: ‚Liebst du mich wirklich?‘ Petrus sagt Ja. Jesus sagt ihm, er solle seine Schafe weiden. Ihr seht also«, sagte Michelle und blickte in die Runde, »Jesus wollte eine Sache von Petrus wissen und nur diese eine Sache. Ob er bereit war, auf die Herde aufzupassen. Die Bedürfnisse der Armen zu stillen, die immer bei ihnen sein würden. Das bedeutet es, Jesus zu lieben.«
Stars Augen leuchteten. »Die lieben nicht, die ihre Liebe nicht teilen.«
Karen und Michelle reagierten sofort und die Diskussion drehte sich um die Frage, ob Liebe überhaupt existierte, wenn sie nicht im Handeln konkret wurde. Rese lehnte sich zurück und hörte zu, während sie an die vielen Arten dachte, wie die Menschen in ihrem Leben jeden Tag kleine Liebestaten vollbrachten. Lance hatte Elaine und Nonna zu sich in die Küche geholt und eine Opern-CD aufgelegt, während er mit den Essensvorbereitungen anfing, sodass sie und Star weggehen konnten. Selbst etwas so Gewöhnliches war Liebe. Wenn es auch Glaube war, wie konnten manche Menschen das dann nicht wollen?
Ihr Leben war so reich geworden. Indem sie einen Mann, der nach der Devise lebte, immer nur ein Stückchen von der Welt zu verändern, in ihr Leben gelassen hatte, hatte sie mehr gefunden, als sie jemals erwartet hätte. Sie war ein verhungerndes Schaf gewesen und hatte es nicht einmal gewusst.
Kapitel 18
Sofie öffnete, als Matt vor der Tür stand, die Hände in die Taschen seiner abgewetzten Jacke gestopft. Nach mehreren Tagen mit Nebel und Nieselregen schien heute die Sonne und der Himmel war klar. Ein Hauch von Frühling lag in der Luft. Matts Miene hingegen sah düster aus. Sein Blick war trüb und ein wenig streitlustig, als er sie begrüßte.
Sie runzelte die Stirn. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, warum?«
»Ich dachte nur, das hier wäre deine Idee gewesen.« Und er sah aus, als wäre er lieber irgendwo anders. »Du kannst es dir gern noch anders überlegen.«
Er atmete hörbar aus. »Sofie, ich bin hier und ich will es so. In Ordnung?«
»In Ordnung.« Es war nur ein kurzer Ausflug, dazu noch am helllichten Tag. Also nichts, was sie dazu verleiten könnten, auf komplizierte Weise mehr dahinter zu vermuten. Sie zog die Tür hinter sich zu und folgte ihm zum Wagen.
Schweigend fuhren sie die Straße entlang, die sich in nordöstlicher Richtung nach Napa wand, bis er irgendwann sagte: »Maria und das Baby sind abgereist?«
»Ja.« Schon vor Tagen hatten sie sich tränenreich verabschiedet.
»Vermisst du Diego?«
»Ich kann durchschlafen – keine schmutzigen Windeln und keine Spucktücher mehr.« Sie starrte auf die letzten Häuser und Gebäude hinaus, als sie zwischen Feldern und Weinbergen hindurchfuhren, und dachte an Diegos weichen Kopf,
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