Das Echo
tippte auf seine Uhr. »Wieso ist das keine vernünftige Zeit?«
»Manche Leute gehen am ersten Weihnachtsfeiertag zur Kirche«, lautete die scharfe Antwort.
»Aber die meisten Leute nicht«, murmelte Deacon.
»Um so schlimmer. In einer gottesfürchtigen Gesellschaft gibt es weniger Kriminelle.«
»Und so viele Heuchler, daß man keinem ein Wort glauben kann.«
»Möchten Sie nun, daß ich für Sie anrufe, Sir?«
»Ja, bitte«, sagte Deacon demütig.
Als sie fast zu Hause waren, fuhr Deacon an den Bordstein und schaltete den Motor aus. »Du hast mich angelogen«, sagte er freundlich. »Jetzt würde ich gern die Wahrheit hören.«
Terry war zutiefst gekränkt. »Ich hab’ dich nicht angelogen.«
»Ich übergebe dich dem Jugendamt, wenn du nicht schleunigst mit der Wahrheit herausrückst.«
»Das ist Erpressung.«
»Genau.«
»Ich hab’ gedacht, du magst mich.«
»Das tue ich auch.«
»Also dann.«
»Also dann was?« fragte Deacon geduldig.
»Ich möchte bei dir bleiben.«
»Ich kann nicht mit einem Lügner unter einem Dach leben.«
»Ja, aber wenn ich die Wahrheit sage, läßt du mich dann bleiben?«
Es klang wie das merkwürdige schwache Echo eines Satzes, den Barry gestern gesagt hatte. ›Werden sie mich freilassen, wenn ich die Wahrheit sage?‹… Aber was war die Wahrheit?… Verity?
»Du meinst, bei Kopf gewinnst du, bei Zahl ich?«
»Kapier’ ich nicht.«
»Du hast offenbar die letzten drei Tage versucht, dich einzuschleimen, indem du mit der Wahrheit hinterm Berg gehalten hast.« Deacon spielte mit dem Gedanken, auf Terrys Verhalten am vergangenen Abend zurückzukommen, ließ es dann aber bleiben. Er wußte aus eigener Erfahrung, daß nachträgliche Kritik schmerzhaft war und in einem noch andauernden Krieg selten etwas bewirkte.
»Ich hab’ einfach gedacht, du brauchst’n bißchen Zeit, um mich richtig kennenzulernen. Billy hat zwei Monate gebraucht, eh’ er gemerkt hat, daß ich für ihn gleich nach einem Stück Brot kam. Und überhaupt kannst du mich jetzt nicht einfach rausschmeißen. Ich kann noch nicht lesen und ich möchte das Geld verdienen, das du mir versprochen hast.«
»Du hast mich bereits ein Vermögen gekostet.«
»Ja, aber du bist reich. Allein schon das Haus von deiner Mutter ist’n Haufen Geld wert. Da kannst du’s dir doch ohne Probleme leisten, noch einen durchzufüttern.«
»Ich habe ihr gesagt, sie soll es verkaufen.«
»Aber das tut sie nicht. Die ist doch total am Boden, weil sie das Testament von deinem Vater zerrissen hat und dein Erbe deiner Schwester gegeben hat. Wenn’s soweit ist - ich mein’, wenn die paar Monate um sind, von denen sie redet -, wird sie sich einfach hinlegen und sterben. Sie hat sich dazu entschlossen, und du kannst nichts dagegen tun, wenn du ihr nicht’nen Grund gibst, noch’n bißchen länger durchzuhalten.«
»Und wie soll ich das anstellen?«
So etwas wie die Weisheit eines alten Mannes glomm in den blassen Augen des Jungen auf. »Billy hat gesagt, daß die Neugier die Menschen am Leben hält, weil wir alle wissen wollen, wie’s weitergeht. Und die, die sich umbringen oder sich einfach hinlegen und sterben, bevor ihre Zeit gekommen ist, die meinen, daß es nichts mehr gibt, auf das man neugierig sein kann.« Er sprach sehr ernst. »Du und deine Mutter, ihr habt nichts, worüber ihr reden könnt, außer dieser Sache, die dich so wütend gemacht hat, daß du abgehauen bist. Darum mußt du dafür sorgen, daß sie auch mal über andere Dinge nachdenken kann. Zum Beispiel über mich. Sie wäre bestimmt ganz schön aus dem Häuschen, wenn du ihr erzählst, daß du mich bei dir behältst. Sie würde den ganzen Tag am Telefon hängen und ihre Nase in unsere Angelegenheiten stecken.«
»Das reicht, um mich endgültig von dieser Idee abzubringen.«
»Bloß, weil du ihr keinen Grund gibst, mit dir zu reden, dann vergehen wieder fünf Jahre. Und das willst du doch genausowenig wie sie.«
»Bist du sicher, daß du erst vierzehn bist?« fragte Deacon argwöhnisch. »Manchmal redest du wie ein Vierzigjähriger.«
Terry war beleidigt. »Ich bin eben reif für mein Alter. Außerdem werd’ ich bald fünfzehn.«
»Das Jugendamt würde niemals erlauben, daß du bei mir bleibst«, sagte Deacon und gab ihm eine Zigarette. »Wenn ich auch nur das geringste Interesse zeigen würde, für dich zu sorgen, würden die mich als Pädophilen abstempeln. Heutzutage ist es gefährlich, sich als erwachsener Mann für jemanden unter
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