Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
trug ich mein Rad mit hoch und band es an mein Bein fest. Die Nacht war sogar ruhig, aber frühzeitig rollte die Karawane weiter.
Der Wehrmachtsfunker Karl Koch
Castelfranco
Wir marschieren. Meine Knöchel sind durchgescheuert, die Strümpfe zerlöchert, das Schuhwerk ist defekt. Die Füße stecken bei dieser enormen Italienhitze dauernd im Leder, Tag und Nacht. Kein Bad, das den Schweiß einmal entfernt. Und dazu die Läuse, die Läuse! Ami und Tommy drängen unaufhörlich nach. Wir finden kaum noch Schlaf. Am Nachmittag geht ein Wolkenbruch nieder. Landser nehmen mich auf ihren mit einer großen Plane überdachten Wagen. Endlich kann ich, bis auf die Haut durchnäßt wie ich bin, etwas sitzen. Und meine schwer mitgenommenen Füße etwas schonen.
In Castelfranco müssen wir über eine Kreuzung, auf deren einem Schenkel weit draußen die Tommies halten. Schon kündigt sich der Abend an. Über die Kreuzung geht es mit größter Schnelle und nur truppweise hinweg. Man rechnet wohl mit Feind-Einsicht! Wenn uns die Partisanen an dieser Stelle in ein Gefecht verwickelt hätten, wären wir sicher auch mit den Tommies zusammengeraten. Wer weiß, mit welchem Ausgang? Jetzt erschienen also die Engländer schon links vor uns!
Der Soldat Fritz Köhler
Bassano
Die Partisanen (Grün-Weiß-Rot) wollen uns den Amerikanern übergeben, aber sie lassen sich bereden, uns weiterziehen zu lassen. Sie warnenuns allerdings vor ihren «Kollegen» weiter oben in den Bergen («Rote» Partisanen) ... Ich und meine Kameraden haben gar keine Lust, uns fünf Minuten vor Toresschluß noch abschießen zu lassen, und da ich diese Warnung schon von mehreren Seiten hörte, beschloß ich, daß wir uns dann doch lieber in die Hände der Amerikaner begeben wollen. Wie es sich später erwies, war es auch richtig, denn durchgekommen ist kaum einer ... Ehe uns die Partisanen nach Bassano ins amerikanische Sammellager führen, bekommen wir noch Brot und Wein. Dann treten wir den Marsch in die Gefangenschaft an.
Thilo Koch *1920
Mione
Auf der Nationalstraße 42 erreichten wir am 30. April Edolo. Von hier aus ist die Schweizer Grenze nur noch etwa 30 Kilometer Luftlinie entfernt. Nur mühsam konnte ich den beiden Kameraden, mit denen ich fliehen wollte, ausreden, den Absprung schon hier zu wagen. Ich fürchtete, daß man uns vor Bekanntgabe der Kapitulation als Deserteure behandeln würde, und ich glaubte nicht daran, daß die Schweizer deutschen Soldaten Asyl gewähren würden.
So blieben wir noch beim riesigen Heerwurm, der sich über den wunderschönen Tonalepaß, wo schon die Bäume blühten, auf der komfortablen Strada Nationale 42 Richtung Bozen bewegte. Wie ich nachträglich auf der Karte feststellte, muß sich unser Kommandeur am Lago di S. Giustino plötzlich entschlossen haben, seine Einheit in eine Sackgasse zu führen. Wir rollten auf einer kleinen Nebenstraße jetzt strikt nach Norden und kamen in dem kleinen Bergnest Mione zum Stehen, weil dort die Straße endete. Vor uns, um uns nur noch Berge und Wald.
Der Stadtpräsident Walther Bringolf
Schaffhausen
Der Andrang der Flüchtlinge in der Zeit vom 21. bis 30. April nahm derart zu, daß er alle Mutmaßungen und damit auch alle Dispositionen übertraf. Manches mußte improvisiert werden, und an gewissen Tagen war es einfach nicht mehr möglich, alle Flüchtlinge einer Desinfektion zu unterziehen. Ganze Transporte von Russen, vielleicht 800 bis 1000, wurden einfach am Bahnhof verpflegt, kamen dann in Eisenbahnwagen und wurden in das Innere des Landes abtransportiert. Es gab Tage, an denen wir überhaupt keine gedeckten Unterkünfte mehr hatten. Auch die Zelte waren inzwischen belegt, sogar nachts. Die Flüchtlinge gehörten den verschiedensten Nationen an, europäischen wie außereuropäischen, und mit Ausnahme der Deutschen waren alle ausgehungert oder in Lumpengekleidet oder trugen das Mal, das ihnen die Nazis aufgeprägt hatten. So zogen sie täglich in langen Zügen durch die Straßen der Stadt. Eine deutsche Kolonne Volkssturm oder was immer es sein mochte – kam mit einem großen Marketenderwagen voll Butter, Speck, Fleisch, Marmelade, Brot und Früchten. Als ich mich erkundigte, was dieser Wagen zu bedeuten habe, meinte die deutsche Gruppe: «Das ist unsere Verpflegung. Wir bringen sie selber mit. Denn in der Schweiz habt ihr ja nichts zu essen.» Ich nahm davon Kenntnis, beschlagnahmte das Fahrzeug und übergab die Lebensmittel unserer Küche, damit sie allen zugute
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